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Archiv-Artikel

Auch wenn die Sonne nie mehr scheint …

Als Mitglied der Walker Brothers Teeniebopper in den Sechzigern, dann Misserfolge: Scott Walker, auch schon 62, hat einiges mitgemacht, bis er als großer alter Mann den Britpop beeinflusste. Nun kommt sein Album „The Drift“ raus – sieben Jahre Arbeit! Und der Geist von Elvis schwebt drüber!

Grußbotschaften von Brian Eno bis Allison Goldfrapp: Scott Walker ist ein Musicians’ Musician – aber das zählt hierzulande ja leider wenig

VON JULIAN WEBER

Nein, mit Scott Walker könne man nicht persönlich sprechen. Lediglich ein einziges Interview gewähre der 62-Jährige deutschen Medienvertretern, und dass es Kollegen gäbe, die „mehr Wert“ hätten, verstünde sich von selbst! Hm. Letzteres kann man durchaus anders sehen. Aber letztendlich lässt man sich in diesem Fall gerne beim Hintenanstellen den eitel Sonnenschein von einer Promowolke verdecken. Da es sich doch um den Weltverdunkler Scott Walker handelt: Scott Walker, die personifizierte schwarze Sonnenbrille, bringt schließlich nicht alle Tage ein neues Album heraus. Elf Jahre hat es gedauert, bis wieder Material davon zeugt, dass Walker immer noch mit den Schatten seiner Vergangenheit zu kämpfen hat.

Er, der unter dem Namen Noel Scott Engel als Kinderdarsteller in einem Broadway-Musical begann, mit 16 die Zulassung zur Kunsthochschule erhielt und schließlich als spindeldürre Beatnik-Krabbe an einen südkalifornischen Strand gespült wurde, von Phil-Spector-Hilfssheriff Jack Nitzsche aufgelesen, zum Popstar deklariert. Nitzsche suchte für eine seiner Teeniebopper-Projekte noch einen Sänger. Scott nahm an und schenkte der Welt eine textliche Synthese aus langen kalifornischen Dürreperioden und der Lektüre von „Bonjour Tristesse“. Dazu machte er manieristische Verrenkungen auf der Bühne mit seinen beiden falschen Brüdern The Walker Brothers. Ihr „The Sun ain’t gonna shine anymore“ chartete 1965 auch in England und lieferte den Soundtrack zur Rollkragenpullovermode. Das Trio schlug die Zelte in Britannien auf, um der damals existierenden amerikanischen Wehrpflicht zu entgehen.

Aber das Kreischen der Massen und die Durchlauferhitzermethode der Musikindustrie, ihre Schützlinge von Fernsehshowauftritt zu Tourneen und zurück zu jagen, wurde Scott zu viel. Nach einem missglückten Selbstmordversuch fand er Unterschlupf bei einem deutschen Fotomodell. Die Folge, ein nüchterner, orchestral pompöser Scott Walker, der zwischen 1967 und 1969 vier Soloalben veröffentlichte. Kommerzielle Misserfolge allesamt, legten sie jedoch den Grundstein für den künstlerische Neuerfindung als Gothic Popstar.

„The Drift“ ist nun erst das dritte Werk seit 1984. Obwohl er seit den Siebzigern nicht mehr live aufgetreten ist, hat Walker ganze Generationen von „Britpop“-Bands überdauert. Genau die schenken dem Exzentriker aber ihre Herzen und ein paar Tantiemen. So stellte Teardrop-Explodes-Sänger Julian Cope eine Best-of aus Walkers ersten vier Soloalben zusammen. Einstiegsdroge für so manche. Jarvis Cocker zum Beispiel verehrt Walker derart, dass er ihn 2002 zur Produktion eines Pulp-Albums einspannte. Ein vor kurzem abgedrehter Dokumentarfilm über Walker hält weitere Grußbotschaften von Brian Eno bis Allison Goldfrapp bereit. Hierzulande zählt ein musicians’ musician freilich wenig. Entweder U oder E heißt es dann.

Walker ist eindeutig beides, also Ü. Der Teeniebopper, der sich zu Schuberts „Kindertotenliedern“ in die Kamelhaardecke einrollt und seit der Liaison mit dem Playmate mehr Jacques-Brel-Texte deklamieren kann als Brel selbst. Der Popsänger, der über alle stimmlichen Attribute eines Crooners verfügt, die Showbizfettnäpfchen ansonsten aber auslässt und lieber ins Kloster geht, um gregorianische Choräle zu studieren. Andererseits trägt Walker zum existenzialistischen Einheits-Schwarz auf dem Covershoot des neuen Albums zeitlose Converse-Allstars: Eat your heart out, Rüdiger Safranski.

Sieben Jahre hat Scott Walker an „The Drift“ gerarbeitet. „Has absence ever / sounded so eloquent / so sad“, heißt es in der Ouvertüre „Cossacks Are“, eingerahmt in einem Mash-up aus Guitar ’n’ Drums und glissandierenden Streichern. Für Stimmungsaufhellung sorgt das Grabkammernecho auf der Stimme auch nicht direkt. Zumal das Wimmern von Walkers Stimme triumphal in die Breite gezogen ist. So reibt er sich besser an seinen Orchesterscores. Oder blitzt da doch etwas Komödiantentum auf? „Touching / in the shattered lives / it unearths“ oder „A noble debut / tackling vertiginous / demands“ oder „you could easily / picture this in / the current top ten“. Eigentlich sind das fiktive Werbesprüche von Buchrücken, aber Walker gibt diese Zeilen wieder, als seien es Aphorismen.

Dann aber verfinstert sich die Laune zusehends. Die folgenden Songs handeln von Kreuzigungen, einer Verfolgungsjagd inklusive Weltuntergang und einer polierten Gabel, die jemand ins Fleisch gerammt wird. Scott Walker at his blutrünstigst. Unrühmlicher Höhepunkt ist „Clara“. Den Beat klatscht Walker, wie im Dokumentarfilm zu sehen, mit der flachen Hand auf ein riesiges Stück Schinken. Bei „Clara“ handelt es sich um Claretta Petacci, die Geliebte Mussolinis, die Seite an Seite mit dem Diktator 1945 sterben wollte und den Wunsch von Partisanen erfüllt bekam. Ihre leblosen Körper wurden Schaulustigen auf einer Mailänder Piazza präsentiert. Walkers Song beschreibt die Todesahnung und bedient sich dabei einer Zeitlupe von Sam Peckinpah. Aus dem Jenseits scheint auch „Jesse“ zu kommen, das dem totgeborenen Zwillingsbruder von Elvis gewidmet ist. „I’m the only one left alive“ würgt Scott Walker hervor und führt stellvertretend für den King ein ungemütliches Selbstgespräch. So würden Songs über Verstorbene klingen, die den Tod nicht mit noch mehr Scham erfüllen, merkt der Autor Ian Penman in den Linernotes des Albums an.

Der Geist von Elvis schwebt über „The Drift“. Zum Finale „A Lover loves“ schnappt sich Walker eine akustische Gitarre und grüßt „dodo“, „Bambi“ und „Beuys“, unterbrochen von Psst!-Geräuschen. Ohne das Wimmern klingt Walkers Stimme verblüffend nach Elvis. Ein versöhnliches Ende, für seine Verhältnisse, abgesehen von dem Mundharmonika-Sample aus „Spiel mir das Lied vom Tod“, das hinter dem Song herzieht wie ein lahmes Bein.

Scott Walker „The Drift“ (4 AD)