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Archiv-Artikel

Ihr könnt uns mal

KÖRPER Die aktuellen Missbrauchsfälle sind auch ein Widerhall der menschenfeindlichen Sexualmoral der Kirchen in den Fünfzigerjahren

Hat die katholische Kirche nicht genügend Gründe, vernehmlichere Tonlagen erst dann wieder anzuschlagen, wenn sie den eigenen Laden einer gründlichen Inventur unterzogen hat?

VON JAN FEDDERSEN

Vielleicht lässt sich die Debatte um Züchtigungen und sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche so zusammenfassen: Alle Fälle taugen für Skandale. Was früher unter der nachtklammen Decke der peinsamen Verschwiegenheit gehalten worden wäre, ist nicht mehr zu verheimlichen. Kein Priester kann sich noch erlauben, ein ihm schutzbefohlenes Kind sexuell zu berühren, ohne zu wissen, dass ihm dies Job und den Leumund kosten kann. Keine noch so gottesfürchtige Eltern können es sich mehr leisten, im Namen des Herrn und der Seligkeit des Klerus die Leiden seines Kindes für unwichtig zu halten. Was – hauptsächlich – unter katholischen Amtsdächern geschah und geschieht, ist nicht mehr okay. Das ist die Differenz zu den Fünfziger-, Sechziger- und Siebziegerjahren, das ist die Differenz zu allen Zeiten, in denen der Klerus glaubte, mit seinen Schäfchen im Grunde alles machen zu können.

Mittlerweile ist die Debatte um Kirche und Körper weit über die Kreise der ohnehin Interessierten hinausgewachsen. Einlassungen wie von Bischöfen, in den Neunzigerjahren seien Ohrfeigen („Watsch’n“) noch gang und gäbe gewesen, Hinweise von kirchlichen Würdenträgern, man habe in den Sechzigerjahren züchtigende, demütigende Gewalt gegen Kinder und Jugendliche für ein gewöhnliches, offenbar erfolgversprechendes Erziehungsmittel gehalten, ernten kein Verständnis mehr, sondern allenfalls respektarmes Lachen und bitteres Entsetzen.

Ob die Skandale um sadistisch anmutende Gewalt und sexuellen Missbrauch, als deren prominentestes Opfer, besser: prominentester Täter, völlig zu Recht der Augsburger Bischof Walter Mixa auf der Strecke blieb, dem katholischen Klerus einen Reformprozess aufhalsen, ob all diese Vorfälle eine Art jesuanisch inspirierte Wende im römisch-katholischen Klerus einleiten, ist natürlich offen. Die frohe Botschaft aber mag lauten: In einer säkularen Gesellschaft, in einem Staat, in dem der Klerus nicht mehr die Definitionsmacht über das hat, was schicklich und was unreinlich ist, kann einem das einerlei sein.

Beiden hiesigen Kirchen geht es wie den therapeutischen Disziplinen, etwa wie der Psychoanalyse: Sie wirken nicht aus sich selbst heraus plausibel, sondern müssen sich dauernd erklären. Ein homosexueller Patient, der an gewissen Formen antischwulen Selbsthasses leidet, wird jede therapeutische Kur meiden, die den Verzicht auf das homosexuelle Begehren bewirken will. So wird es den christlichen Amtskirchen auch ergehen: Wer sich in die hinein begibt und statt der Botschaft von jesuanischer Gesamtgeborgenheit nur Drohungen erleiden muss, Angst erlebt und Gewalt, wird sie meiden – und seinen oder ihren höchstpersönlichen Christenglauben nicht mehr in den offiziellen Großreligionsgemeinschaften ausleben.

Das ist im Übrigen eine Entwicklung, die dem Vatikan Kummer bereitet. Worte aus diesem Hause haben selbst bei einer CDU-Kanzlerin wie Angela Merkel nicht dieses außerpolitische Gewicht, das sich über die Welt stellt und mehr ein Befehl ist denn eine Meinung. Eine Kirche, reformiert oder nicht, die ihre Mitglieder unzufrieden macht, kann auf Gefolgschaft nicht vertrauen, wenn in ihr das allermeiste schiefläuft: Bange machen gilt nicht mehr, Gott sei Dank.

Die Missbrauchsskandale, die in den vergangenen Monaten ruchbar gewordenen sind, sind auch ein ferner Widerhall auf die Rolle der Kirchen in der Nachkriegszeit. Zur Erinnerung: Beide Kirchen hatten auf ihre Weise sich auf die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland einen Reim gemacht. Sie begannen mit dem, was später Vergangenheitsbewältigung genannt wurde. Und den Grund für das Übel des völkischen Regimes erkannten sie in der Entfesselung des Bösen – und das Böse, so findet es sich in einer Fülle von Schriften sowohl der katholischen wie der evangelischen Kirche der Nachkriegszeit, war das Sexuelle, die Freizügigkeit, die Begünstigung des Leiblichen, die Entfesselung.

Die sexuelle Verklemmung, die die Bewegung der Achtundsechziger abzutragen hatte, war auch eine christlich gestiftete, und zwar eine, die in den späten Vierzigerjahren wurzelt. Die Kirchen in Union mit den Regierungen Konrad Adenauers trugen maßgeblich dazu bei, dass die Bundesrepublik die Nazigesetzgebung zu Homosexualität beibehielt. Die Kirchen waren es, die die Abtreibung in den Rang eines Kapitalverbrechens hoben – und bis heute können es katholische Bischöfe nicht lassen, Frauen, die eine Schwangerschaft mit einer Abtreibung unterbrachen, mit Holocausttätern gleichzusetzen. Beide Kirchen, zuvörderst die katholische, haben nichts unversucht gelassen, das Sexuelle zu verteufeln – und der römische Zweig des Christlichen hält Sex für ein Begehren, das nur dann nicht sündig ist, wenn es der Fortpflanzung dient.

Was es mit der römisch-katholischen Aufrichtigkeit auf sich hat, wenn es ums Sexuelle geht, erfährt die Öffentlichkeit nun an den Fällen sexuellen Missbrauchs, die bis in die Jetztzeit reichen. Man hört: Das Personal des Klerus kommt erst dann richtig auf Touren, ist eine sexuelle Verheißung mit Strafen, mit Sünden und mit Verboten behaftet. Wir erfahren: In den Reihen der Kirche werden nicht jene Männer Priester, die sich, schwer genug, auf ein zölibatäres Verständnis des Christendienstes einlassen möchten, sondern vor allem Männer, denen eine bürgerliche Existenz als schwule Person zu beschwerlich ist – und lieber unter zölibatären Falschzeichen das leben, was sie nicht Sexualität nennen und im Praktischen wohl in erster Linie masturbatorischen Handlungen nahekommt. Selbstbefriedigung an sich und gern mit anderen, gerichtet auf Mädchen oder Jungs.

Wie gesagt: Ideologische Apparate wie die Kirche bieten auch Tröstliches, Gutes, Schönes. All das Soziale, das Barmherzige, das Anteilnehmende. Doch wir, das Publikum, erkennen in diesen Diensten oft nur den Vorwand für das Eigentliche, das Gewalttätige, das Verhüllte, das Verklemmte. Und das ist, weltlichem Verständnis gemäß, nichts als Heuchelei. Man fragt sich: Und diese Kirchen maßen sich an, moralische Leitplanken zu setzen und immer dann besonders laut zu werden, wenn sogenannte Werte berührt sind? Hat die katholische Kirche nicht allmählich genügend Gründe, kleinlaut zu werden und vernehmlichere Tonlagen erst dann wieder anzuschlagen, wenn sie den eigenen Laden einer gründlichen Inventur unterzogen hat?

Die sexuelle Verklemmung, die die Bewegung der Achtund-sechziger abzutragen hatte, war auch eine christlich gestiftete

Wahrscheinlich ist der römische Klerus samt seinen deutschen Filialen von solch einer Läuterung so weit entfernt wie die Philister selbst von der biblischen Botschaft. Zuversicht stiften zumindest die viel lebendigeren protestantischen Kirchen. „Seid fruchtbar und mehret euch“ wird in diesen christlichen Zweigen nicht mehr als Kampfformel missbraucht: als Credo des Christlichen, das nicht auf die Lust des Lebens vertraut, sondern als Fingerzeig, das sexuelle Durcheinander in Hinblick auf die Kinderproduktion zu sortieren. Das biblische Schnipselchen meint ohnehin, modern gedeutet, nur dies: Seid als Christen so, dass ihr für die jesuanische Botschaft einstehen könnt – und sammelt um euch herum mehr Menschen, die diesem Programm dienen möchten. Eben nur als Satz, der über jeder jesuanischen Tafel schweben könnte, nicht als Anmutung, die aus dem Sexuellen alles aussparen möchte, das in die Zeugungsformel nicht passen kann.

Dass insofern auch die protestantischen Kirchen nicht mehr ein Hort für jene sein können, die bekennenderweise die Verfolgung Homosexueller gutheißen – wie etwa die besonders in Osteuropa tätigen, missionarisch orientierten Freikirchen –, wäre nur logisch. Die schwedisch-lutherische Kirche hat diese Freiheit sich genommen: Wer aus ihr austrat, weil sie nicht Mitglied einer Institution sein wollen, die eine lesbische Theologin wie Eva Brunne zur Bischöfin von Stockholm wählte, kann nicht bedingungslos wieder in den Schoß der Kirche zurück. Er oder sie sollen sich erklären – und sagen, was sie bewog, eine Glaubensgemeinschaft zu verlassen, weil diese in ihrer Mehrheit nicht bereit ist, Homosexuelle zu entwerten, zu diskriminieren, zum Schweigen zu bringen.

So weit sind die deutschen protestantischen Kirchen noch nicht. Aber immerhin: Sie anerkennen das Institut der Eingetragenen Lebenspartnerschaft, das allein ist ein gravierender Unterschied zu katholischen Einrichtungen. In den protestantischen Kirchen hingegen können Christinnen und Christen zu PastorInnen gewählt werden, die lesbisch oder schwul sind. Und die mit ihren PartnerInnen im Pfarrhaus zusammenleben möchten. Für viele Christen ist allein diese Vorstellung noch eine Zumutung.

Aber was soll’s, ließe sich argumentieren: Jesus Christus von Nazareth war in seiner Zeit nichts als eine solche. Zumutungen sind der Grund für die Gründung dieser Religion gewesen. Das, zumindest das, sollte man ernst nehmen.