LEUTE WIE MICH, DIE KEIN INTERESSE AN FORTSCHRITT IM WALD HABEN, WIRD BRAUNLAGE NICHT MEHR SEHEN
: Der Schatz im absurden See

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Das letzte Mal, als ich in Braunlage war, war es Herbst und alles vergoldet, wie das manchmal im Herbst so ist. Wir wohnten in einer günstigen, altmodischen Ferienwohnung, auf deren riesigem Holzbalkon zum Wald hinaus ein altes, feuchtes Sofa und ein Sessel standen, wir tranken Schierker Feuerstein, wir erstiegen den Wurmberg und den Brocken, wir verliefen uns in den dicken Wäldern und kamen erst mitten in der Nacht wieder in Braunlage an.

Wir aßen in holzverkleideten Restaurants fleischlastiges Abendbrot, wir tranken in der kaum belebten Hauptstraße lauwarmen Glühwein an einem Stehtisch, an dem lauter Schnecken klebten, wir stolperten durch den lächerlich kleinen Kurpark und fotografierten die Enten. Es fiel uns schon auf, dass einige Häuser verfallen und unbewohnt waren, dass die ganze kleine Stadt einen Art morbiden Untergangscharme ausstrahlte, dass in den Geschäften DDR-Nostalgie-Artikel angeboten wurden, obwohl doch Braunlage nie im Osten lag. Wir tauchten ein in eine Unbedeutendheit, in eine Art andauernden Mittagsschlaf, inmitten einer umwerfenden Natur, die freundlich war, erholsam, müde und alt. Was störte, waren alle Versuche, die Müdigkeit zu beleben. Etwa die Monsterroller, die vom Wurmberg runtersausten, aber es sausten kaum welche, weil es glücklicherweise meistens neblig auf dem Wurmberg war. Der letzte Herbsturlaub in Braunlage war mit einer meiner liebsten.

Wie es jetzt kommt, scheint mir so absurd und traurig zu sein, dass ich es eigentlich gar nicht wissen will. Auf dem Wurmberg ist ein See angelegt worden, der den schwindenden Tourismus ankurbeln soll. Der Wurmberg, der ja leider nicht gegen die Höhe des Brockens anstinken kann (und die höhere Höhe, die größere Größe und die breitere Breite ist ja ein grundlegendes Kriterium in allen Dingen des kapitalistischen Erfolgszeugs) muss mit allen Mitteln nun genutzt werden.

Der See, der sich im Sommer sicherlich hübsch auf dem Gipfel eines Berges ausmacht, soll im Winter den ansonsten total unzuverlässigen Schnee für den Skisport liefern. Damit die Leute mit der Verlässlichkeit des Wintersports gelockt werden können. Damit lukrative Hotels mit modernen Zimmern, Kamin und Après-Ski und allem, was zum Beispiel die Schweizer Alpen auch bieten, gebaut werden können. Damit das ganze Naturding auch mal was bringt.

Dafür wurden ein paar Bäume gefällt, ein bisschen Wasser auf einen Berg gepumpt, ein paar neue Skipisten angelegt, Skilifts. Gastronomie. Unterhaltung. Tanz. Die Leute wollen auch mal was verdienen. Norddeutschlands größtes Skigebiet sollte es werden, und ist es jetzt auch. Klagen gegen den Eingriff in den „Nationalpark Harz“ sind zurückgezogen worden. Es geht alles seinen Gang. Es geht voran. Die Gäste können sich auf den künstlichen Schnee von dem künstlichen See verlassen und auf die Romantik vor dem Kamin in dem zentralbeheizten Hotel. Am Abend dann Partys, wo es richtig abgeht. Und alles wird sich endlich lohnen.

Nur Leute wie mich wird Braunlage nicht mehr sehen. Die sich weigern, künstlichen Schnee zu akzeptieren. Die noch nie auf einem Monsterroller durch den Wald sausen wollten. Die eigentlich nur ganz langsam unterwegs sind und ganz gerne auf einem feuchten Balkon-Sofa sitzen und in die Wiesen starren. Die kein Interesse an Fortschritt im Wald haben. Aber gut, ich bin nur einer. Ich bin nicht viele. Viele sind die Bild. Viele fahren nach Malle. Viele fliegen kurz mal auf die Malediven. Viele fahren Auto, viele wollen viel für wenig Geld. Einen See auf einem Berg und Schnee bei 12 Grad plus. Und lassen sich den Spaß einfach nicht verderben.  KATRIN SEDDIG

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen