Mehr Gras wäre besser gewesen

FOLK Rasender Stillstand: Der US-Singer-Songwriter Cass McCombs stellt auf seinem Doppelalbum „Big Wheel and Others“ große Fragen in den Raum. Schon im Titelsong macht er uns den Grönemeyer

Viereinhalb sei er, sagt der kleine Sean. Beim Aufzählen der Wochentage hapert es noch ein bisschen. Dafür bekennt er mit einem gewissen Stolz, Gras zu rauchen. Manchmal auch zu essen. Gras zu essen, findet der Knirps, sei schöner. Wie das denn ist? Naja, sagt Klein-Sean: „Falls du ein bisschen Gras dabei hast, zeig ich es dir.“

Auch über Gott spricht er in einem kurzen Film („gibt’s nicht“) und Cops („sind böse, braucht man nicht“). Leicht frühreif, dieser Blondschopf, aber nicht unsympathisch. Der Filmemacher Ralph Arlyck wohnt Ende der sechziger Jahre in einem kleinen Apartment in San Francisco, genauer: Haight-Ashbury, Hochburg der Hippies und Freaks. Dort lernt er das helle Kerlchen kennen, das mit seinen unkonventionellen Eltern ein Stockwerk höher in einer Art Kommune haust. Der Film, den er über die Welt according to Sean dreht, läuft 1969 in Cannes und sorgt für gehöriges Aufsehen. Die 15-minütige Dokumentation schenkt der antiautoritären Bewegung Zuversicht in den Erfolg ihres Tuns; den Konservativen präsentiert sie den vorläufigen Endpunkt einer zivilisatorischen Abwärtsspirale.

Ein verlorener Traum

Fast ein halbes Jahrhundert später hat dieses „Kind der modernen Zeit“ (Truffaut) nochmal einen Miniauftritt auf dem neuen Doppelalbum des US-Singer-Songwriters Cass McCombs. Mehrere Soundschnipsel aus „Sean“ sind zwischen die 19 Songs gestreut, als würde da ein Ahne beschworen oder ein guter Geist, aber zugleich auch ein auf dem Weg in die Gegenwart verlorener Traum. Jedenfalls darf man annehmen, dass McCombs dem Filmemacher Arlyck nicht nur ein Dankeschön entrichten wollte, weil dieser bei seiner historischen Spurensuche „Following Sean“ (2005) einige Lieder des Songwriters verwandt hat.

Der 1977 geborene Kalifornier McCombs hat ja durchaus konzeptionelle Ambitionen. 2011 erschienen zwei Alben im Abstand eines halben Jahres, das eine die rau-rockige Kehrseite des folkigen anderen. Für Cass McCombs ist Sean vielleicht so ein Doppelwesen, ein dialektischer Charakter, auf emanzipatorischem Trip in eine goldene Zukunft, aber gleichzeitig schon so altklug, dass die Reflexionsschleifen das kleine Kinderhirn ganz schön in Turbulenzen versetzen. Was es auch alles zu bedenken gilt: Beziehungskuddelmuddel ebenso wie Drogen und vor allem den lieben Gott.

Das Big Wheel dreht sich, und man kommt dann doch nicht so recht voran. Rasender Stillstand. Falls sich McCombs so was gedacht haben sollte, dann ist das ziemlich gewieft. Es trifft nämlich auf ihn selber zu, auch bei ihm geht es um alles, und auch bei ihm als altem Grübler herrscht viel Leerlauf. Und die großen Fragen stehen sowieso im Raum.

Schon im Titelsong macht er uns den Grönemeyer: „What does it mean to be a man? / How you gonna tell me who I am?“ Weiter geht’s mit allerhand Liebeswirrungen und Angstdämonen, mit Kunst- und Jenseitsbetrachtungen, mit Gott und seinem ewigen Gegenpart, freilich immer über Bande gespielt und in leicht hermetischen Versen, für die Cass McCombs nach mittlerweile fünf Alben bei seiner überschaubaren Fangemeinde berühmt ist. Das ist interessant; so richtig zündend ist es nicht.

McCombs fehlt nämlich, was seinen Gewährsmann Sean bei aller Durchtriebenheit doch ausmacht: ein gerüttelt Maß an bezaubernder Naivität. Bei McCombs scheint alles sehr kalkuliert, das zeigt sich schon in der Aneignung verschiedenster Stile: ein Countrysong folgt auf eine Rocknummer, ein Blues auf ein funky Soulstück, eine Folkballade auf einen Midtempo-Shuffle. Schön ausgewogen.

Dabei klingt McCombs nie mit sich selbst so richtig identisch; sogar seine Stimme scheint ihm nicht recht zu gehören. Sein Songwriting hat auf diesem Album etwas Kunsthandwerkliches, weder charakteristisch noch kantig.

Das heißt nicht, dass McCombs nicht auch überraschen kann. Einige Stücke ragen wirklich aus dem lässig rausgeschüttelten Mittelmaß heraus, das countryeske „Angel Blood“ oder das an den jungen Lloyd Cole erinnernde „There Can Only Be One“. Die kürzlich verstorbene Schauspielerin Karen Black hat als Sängerin einen Gastauftritt mit dem hinreißenden „Brighter Star“, das allerdings gleich in zwei Versionen auf dem Doppelalbum glitzern muss.

Man denkt sich da: „Big Wheel and Others“ wäre, halb so lang, gar nicht übel geworden. Und na ja, ein bisschen Gras hätte vielleicht auch nicht geschadet.

ULRICH RÜDENAUER

■ Cass McCombs: „Big Wheel and Others“ (Domino Records/Goodtogo)