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Archiv-Artikel

Das Jahr der Bestätigung

Vor einem Jahr wurde das Holocaustmahnmal eröffnet. Seither schreibt der lange umstrittene Bau seine Erfolgsgeschichte. Geschätzte 3,5 Millionen Besucher und Besucherinnen kamen bisher. Zehntausend täglich. Kaum einen von ihnen lässt es kalt

VON WALTRAUD SCHWAB

Nach einem Jahr ist klar: Das Holocaustmahnmal ist ein Erfolg. Vergessen der jahrelange Streit im Vorfeld darüber, welcher Opfergruppen gedacht und welcher Entwurf umgesetzt werden soll. Die Entscheidung fiel auf das Stelenfeld des amerikanischen Architekten Peter Eisenman. 2.711 Quader aus anthrazitfarbenem Beton sind in Reihen angeordnet. Symmetrisch zwar, doch nichts ist im Lot.

Wer sich dem Mahnmal zum ersten Mal nähert, wird enttäuscht sein. Es wirkt unspektakulär, sieht aus wie ein nur leicht bewegtes, graues Meer, das sich kaum von der Straße abhebt. Dass die Wogen hier dennoch hoch sind, merkt nur, wer in das Feld hineingeht. Dort erst offenbart es seine Tiefen. Manche der Stelen am Rand sind kaum einen Zentimeter hoch, andere im Innern aber fünf Meter.

„Ein Besuchermagnet ist das Mahnmal geworden“, sagt Uwe Neumärker, Geschäftsführer der Stiftung Holocaustmahnmal. Weil es Tag und Nacht offen ist, gibt es nur Schätzungen über die Zahl der Menschen, die hingehen. Die Berlin Tourismus Marketing GmbH geht von täglich 10.000 aus. Das wären 3,5 Millionen im ganzen Jahr.

Verlässlichere Quellen kann die Stiftung über die Gäste des unter dem Mahnmal liegenden Dokumentationszentrums geben. Dorthin kamen etwa 500.000 Menschen. Fast doppelt so viele wie ursprünglich angenommen. Neumärker verteidigt die Entscheidung, im Dokumentationszentrum einzelne Schicksale darzustellen: „Anders als im Stelenfeld bekommt der Holocaust hier ein Gesicht. Das gibt den Leuten einen direkten Zugang zur Geschichte.“

„Das guck ich nicht an“

Das Stelenfeld selbst ist eine Metapher für den Schrecken der deutschen Geschichte. „Schwarze Milch der Frühe“ – in Beton gegossen. Es ruft unterschiedliche Reaktionen hervor: Die einen halten es für einen Ort der Erinnerung, der die Zeit überdauern wird. Die anderen fürchten, dass der Holocaust zur Spielwiese verkitscht werde. „Niemand bleibt indifferent“, meint Neumärker und wendet die Auseinandersetzung damit ins Positive.

Das Mahnmal ist ein öffentlicher Ort. Einer, der nicht Bewunderung einfordert, sondern die Leute zwingt, sich einzulassen. „Das guck ich nicht an“, ist nicht nur Verweigerung, es ist auch eine Meinung. Manchmal eine, die durch die Geschichte zu begründen ist wie bei jenem alten Mann, der versucht hineinzugehen. Sobald er jedoch den Überblick im Stelenfeld verliert, kehrt er um. „Ich kann nicht.“ Dann deutet er auf seine Frau, die im Rollstuhl am Rand sitzt. „Wir waren als Kinder im Internierungslager in Frankreich. Wir wurden von den Quäkern gerettet und in die Schweiz gebracht. Unsere Eltern haben wir nicht wieder gesehen. Sie starben in Auschwitz.“ Später gingen die beiden nach Israel. Heute besuchen sie manchmal Berlin, um zu vergessen. An welchem anderen Ort in der Stadt bringt die einfache Frage „Was bedeutet es Ihnen?“ so große Antworten hervor?

„Wir sind auf der Schwelle von der Zeitzeugenschaft zur virtuellen Erinnerung“, sagt Neumärker. „In zehn Jahren werden kaum noch Überlebende da sein, die Zeugnis geben können. Das ist die Herausforderung, die das Mahnmal bestehen muss.“ Sein Vorschlag: „Man soll nie aufhören, über das, was passiert ist, zu reden. Nur so kann man auch in die Zukunft wirken. Damals hat es mit Ausgrenzung angefangen.“ Wie heute? Er lässt die Frage offen.

Wie um einen Tisch stehen manche Reisegruppen um die niedrigen Stelen. Sie legen ihre Taschen, Handy oder Picknickbrote ab. Sie lassen sich auf Gespräche ein, als könnten Worte die verschiedenen Erfahrungen zusammenfügen. „Man fühlt sich einsam darin. Ich war weit weg von mir“, sagt ein Jugendlicher, der mit seiner Klasse aus München angereist ist. Seine Freundin widerspricht: „Ich war ganz bei mir.“ Und die Geschichte? „Na ja, man lernt was darüber in der Schule.“ Dann sieht sie den Jungen, der von Stele zu Stele springt. „Krass, der da oben.“

Spielwiese, das ist ein weiteres Stichwort. Das Stelenspringen sei weit weniger verbreitet, als in den Medien gern behauptet, meint Neumärker. Einen schweren Unfall hat es bisher gegeben. Ein französischer Junge war es. Er hat überlebt.

„Uns wird es überdauern“

Wenn es ums Mahnmal geht, reagiert die Öffentlichkeit empfindsam. Vor ein paar Wochen waren Schäden im Beton in den Schlagzeilen. Etwa ein Dutzend Stelen weist Risse auf. Bis zu 0,15 Millimeter liegt dies im Bereich der Toleranz, die vertraglich festgelegt ist. Für jeden Quader gibt es einen Stelenpass. Dort ist erfasst, wann sie produziert wurde, wie die Betonmischung war und wann sie aufgestellt wurde. Derzeit wird geprüft, ob die Risse als Mängel kategorisiert werden können. Wenn ja, wird der Ursache nachgegangen, erklärt der Geschäftsführer der Stiftung. Aber wie sollen Bauwerke in die Zukunft wirken, wenn sie nur so lange halten müssen, bis sie steuerlich abgeschrieben sind? Als Frage mag dies berechtigt sein, meint Neumärker, für das Mahnmal allerdings gilt, dass es mit den besten Werkstoffen, die derzeit verfügbar sind, gebaut wurde. „Uns wird es überdauern.“

Neue Aufregung steht mit der Ladenzeile, die an der Cora-Berliner-Straße entlang dem Mahnmal gebaut wird, ins Haus. Überdimensioniert kommen die Holzverschläge, für die es nur eine dreijährige Genehmigung gibt, daher. Als wären es Interimsgaragen für Lastwagen. Dunkle Höhlen, die, einmal fertig, von Kitsch bis Cola alles bieten werden, um Kontemplation in Konsum zu verwandeln.

Die Stiftung hatte keinen Einfluss auf die Gestaltung, sagt Neumärker. Das sei Angelegenheit des Investors. Dass ihm die fliegenden Händler rund ums Mahnmal, denen nun Konkurrenz gemacht wird, allerdings ein Dorn im Auge sind, daraus macht er keinen Hehl. Am Ende wird er beides haben, die Ladenmeile und die Händler.

„Im Fernsehen sieht das Holocaustmahnmal anders aus als in echt“, sagt eine ältere Besucherin. „Zu den Buden kann ich nichts sagen.“ In der Nähe des Eingangs zum Dokumentationszentrum sitzt sie auf einer Stele mit direktem Blick auf die hämmernden Bauarbeiter und wartet mit anderen auf den Bus, der sie nach Freiberg in Sachsen zurückbringt. Für das Mahnmal findet sie genau jene Wörter, die auf der Hit-Liste der Beschreibungen ganz oben stehen: beklemmend, beeindruckend, großartig.

Dagegen reagiert eine Berlinerin, die die Diskussion um die Fressmeile kennt, entsetzt: „Ich möchte, dass das Mahnmal aus dem Nichts kommt und ins Nichts hineinführt“, sagt sie. „Jetzt führt es an der einen Seite direkt zur Currywurst. Na gut, das ist auch Berlin.“