„Bleiben die Kinder eben hier“

Seit Einführung eines Gutscheinsystems haben Hamburgs Kitas zu wenig Personal. Besuch in einer Brennpunkt-Kita, wo Praktikanten aushelfen und Erzieherinnen Überstunden in Serie schieben

80 Prozent der Eltern sind so arm, dass sie nur den Mindestsatz bezahlen

Von Kaija Kutter

Die Kleinen sind mit dem Essen gerade fertig, sitzen brav auf ihren Stühlchen. Mit großen Augen gucken sie auf den Besuch. „Können Sie nicht noch ein bisschen bleiben, dann sind die so schön ruhig“, scherzt die Erzieherin, die einem Kind die Windeln wechselt. Sie betreut die zwölf Kinder zwischen einem und drei Jahren allein, unterstützt nur von einer jungen Frau im Freiwilligen Sozialen Jahr und einer Praktikantin.

„Hier müssen immer drei Betreuer sein. So etwas wie jetzt dürfte gar nicht sein“, erklärt Kita-Leiterin Birgit Schneider*. Schreiben dürfen wir das nur, weil wir die Kita anonymisieren. Sie liegt in einem bekannten sozialen Brennpunkt am Rande der Stadt und leidet an den Folgen des Kita-Gutscheinsystems.

Normalerweise sind 15 Kleinkinder in der Gruppe, für die nach dem neuen System rund 70 Betreuungsstunden pro Woche zur Verfügung stehen. Damit muss eine Öffnungszeit von 50 Stunden abgedeckt werden. „Ich könnte jetzt eine Kraft für 20 Stunden einstellen“, sagt die Leiterin. „Aber vielleicht muss ich die im nächsten Monat wieder entlassen – das kann ich keinem zumuten.“ Schuld ist das Gutscheinsystem: Es ist starr an den Arbeitszeiten der Eltern ausgerichtet. Hat eine Mutter ihren Sprachkurs oder Ein-Euro-Job beendet, muss sie das Kind wieder nach Hause nehmen. Die Folge sind unregelmäßige Einnahmen bei der Kita. Also müssen Schneider und ihre vier KollegInnen Überstunden machen.

Das neue System ist nicht nur für die Personalplanung schlecht, sondern auch für die Kinder, findet die Pädagogin: „Die meisten haben zu Hause nur Fernsehen, und sonst nichts.“ Nach dem ersten Mai habe nur ein Kind vom Zirkus berichtet, alle anderen hätten nichts erlebt. Und manche bekämen nachmittags um vier in der Kita die letzte Mahlzeit des Tages. Auch daran, dass einige Eltern die Kinder im Schlafanzug bringen, haben sich die Betreuer gewöhnt. „Wir kleiden die aus unserem Fundus ein und waschen ihre Sachen“, sagt Schneider. Mit Kleidern vom Flohmarkt.

Schneider begrüßt die Schulkinder. Es geht lebendig und familiär zu. Zu fünft essen sie am Küchentisch. Es gibt Hühnchen mit Kartoffelbrei. „Probiert bitte den Brokkoli“, mahnt sie wie bei Muttern. Nebenan läuft gerade Sprachförderung für die Vorschulkinder. Jedes Kind soll einen Satz sagen. Sie sitzen im großen Kreis um ihr mitgebrachtes Spielzeug herum: eine Barbie, ein Pferd, ein rosa Plastikschwein. „Das ist Susi Sonnenschein“, sagt ein Mädchen. Einige haben gar nichts, ein Junge einen Dino von McDonald’s. „Wer hat denn noch Spielzeug von McDonald’s“, fragt die Erzieherin. Viele Finger schnellen hoch.

Der „Garten“ ist ein kleines längliches Areal mit Gehwegplatten, das in den Spielplatz eines Wohnhofes mit gräulich schmutzigem Sand mündet. Der Sand müsste mal wieder gewechselt werden, aber das sind nur die kleineren Sorgen, die die Kita-Leiterin plagen. 80 Prozent der Eltern sind so arm, dass sie nur den Mindestsatz bezahlen. Seit der Hamburger Senat für das Essen 13 Euro im Monat zusätzlich verlangt, bleiben immer mehr Eltern den Beitrag schuldig. „Was soll ich machen, rausschmeißen kann ich die doch nicht“, sagt Schneider. Eine Mutter geht ihr wegen der Schulden aus dem Weg. 400 Euro seit Oktober ist sie für ihre zwei Kinder schuldig. Schneider: „Das ist die Hälfte von dem, was die Familie im Monat zum Leben hat.“ Der Kita-Träger riet ihr, sie solle sich Sponsoren suchen.

20 Jahre lang hat Scheider die Ganztagskita betrieben, kennt viele der jungen Mütter, die mit 19 teilweise schon ihr zweites Kind kriegen. „Manche Frauen sind fix und alle. Die kriegen zu Hause jeden Tag den Arsch voll“, beschreibt sie ihre Klientel. „Wenn die früher kamen und sagten: ,Ich komme mit dem Kind nicht klar, ich schrei so viel‘, dann war es ganz einfach, beim Jugendamt für das Kind einen Krippenplatz zu besorgen“, erinnert sich Schneider. „Heute muss man ein Kind schon für halb verrückt erklären, damit es einen Gutschein nach ,Priorität 1‘ kriegt.“ Damit nach diesem Kriterium eine Ganztagesbetreuung gewährt wird, muss eine erhebliche Kindeswohlgefährdung nachgewiesen werden.

Inzwischen akzeptiert das Jugendamt bei einem einzelnen Kind gerade noch eine siebenseitige Stellungnahme der Kita-Leiterin. „Aber wenn ich denen mit fünf Kindern komme, verlangen die Stellungnahmen von Ärzten und Psychologen.“ Bei den Drei- bis Sechsjährigen hat sie längst aufgegeben, „Priorität 1“ zu beantragen. Für diese Altersgruppe gilt dann noch der Mindestanspruch von fünf Stunden, die Kinder müssen um ein Uhr abgeholt werden. „Manche Eltern vergessen das, aber was soll’s“, sagt Schneider achselzuckend. „Bleiben die Kinder eben hier.“

Wie ernst die Lage ist, zeigt das Beispiel eines zweijährigen Kindes, das eigentlich im Sommer raus soll, weil der Ein-Euro-Job der Mutter endet. Nur weil die Nachbarn immer wieder nachts Geschrei gehört und die Hotline für Kinderschutz informiert hatten, gibt es jetzt vielleicht doch die Verlängerung.

Trotz allem möchte Birgit Schneider „nirgendwo anders arbeiten“. Schließlich erlebt sie auch kleine Erfolge. Zum Beispiel, wenn sie sieht, wie ehemalige Kita-Kinder einen Beruf lernen und bei ihr ein Praktikum beginnen. „Aber wir brauchen hier im Stadtteil dringend mehr Personal.“ *Name geändert