Barbara Bollwahn über ROTKÄPPCHEN
: Eine Frage des Selbstbewusstseins

Kein Solidarzuschlag der Welt kann aus dem kollektiven Wir ein eigenes Ich machen

Ja, ja, die Ostler, immer sind sie am jammern. Und wenn ihnen etwas nicht passt, gehen sie auf die Straße und schreien „Wir sind das Volk“. Sie schreien nicht mehr „Wir sind ein Volk“, nein, plötzlich wollen sie wieder für sich sein. Aber auch die Westler jammern, nur hinter vorgehaltener Hand. Über das viele Geld, das noch immer in den maroden Osten gesteckt wird, um die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Dumm ist nur, dass es Dinge gibt, die nicht mit dem Solidarzuschlag zu beschaffen sind. Selbstbewusstsein zum Beispiel.

Wo sollte das Selbstbewusstsein auch herkommen im Osten? Die Verleihung goldener Hausnummern für geharkte Rabatten und die vorbildliche Beflaggung zum 1. Mai oder das stolze Aufzählen der bei den Olympischen Spielen gewonnenen Medaillen sollten ein kollektives Selbstbewusstsein schaffen. Selten so gelacht. Ätschebätsche, bei uns funktioniert der Gemeinsinn I a! Ätschebätsche, wir springen höher! Wir schwimmen schneller! Wir bringen es weiter! Ohne das Kollektiv, so lautete die Parole, ist man nichts, eine sozialistische Null. Das Tragen von stonewashed Jeans war keine wirkliche Hilfe zur Stärkung des eigenen Ichs.

Und immer dieses So-tun-als-ob! Was habe ich es gehasst, wenn meine Eltern Kopf standen, nur weil sich Besuch aus dem Westen angekündigt hatte. Da wurden die Sessel neu bezogen, das so gut wie neue Kaffeegeschirr gegen nigelnagelneue Tassen und Teller eingetauscht, ein „Exquisit“-Bekleidungsgeschäft aufgesucht, wo es dank der Vermittlung von Alexander Schalck-Golodkowski und seiner „kommerziellen Koordinierung“ auch Kleidung aus dem NSW gab, dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Außerdem setzten meine Eltern, um dem Westbesuch kulturell etwas zu bieten, Himmel und Hölle und den Stasi-Onkel in Bewegung, um Karten für das Leipziger Gewandhaus zu bekommen. Das Ende vom Lied: Mein Vater war so herausgeputzt, dass er aussah wie der wohlhabende Wessi. Und der wohlhabende Wessi? Der sah in seinen Jeans und seinem leicht zerknitterten karierten Hemd aus wie jemand, dem es einfach egal ist, was die anderen von ihm denken. Meine Eltern schämten sich für ihren Besuch.

Kurz nach dem Mauerfall fuhr ich mit meinem Vater in einem Bus den Ku’damm entlang. Weil wir nicht die einzigen Ostler waren, die in diesen Tagen im Westen unterwegs waren, war er gerammelt voll. Als sich der Bus abrupt in eine Kurve legte, stieß die Tasche meines Vaters gegen das Knie einer Wilmersdorfer Witwe. Mein Vater entschuldigte sich vielmals und in aller Form. Doch die alte Frau kanzelte ihn ab, als hätte er ihr einen Kaugummi an den Pelz gespuckt. Mein Vater ließ sich schweigend zur Sau machen anstatt sich als Arzt zu erkennen zu geben und zu fragen, ob sie vielleicht schwerhörig sei.

Vor wenigen Wochen war ich in einem entzückenden kleinen Ski-Ort im Tessin. Weil mein Begleiter und ich nicht wirklich Ski fahren können, liehen wir uns Schlitten aus und fuhren mit dem Lift hoch zur Piste. Die war sehr steil und die Schlitten hatten keine Bremsen. Es passierte, was passieren musste. Mein Begleiter stürzte und sein Schlitten düste in einem Affenzahn den Hang hinunter und verschwand. Dafür tauchte eine große Angst auf, für den Verlust zur Kasse gebeten zu werden. Angst, dass wir den Urlaub vorzeitig abbrechen müssen. „Ich regel das“, sagte ich und gab meinem Begleiter meinen Schlitten.

Dem Italiener vom Verleih erzählte ich, dass ich aus dem Osten und das erste Mal in meinem Leben Schlitten gefahren sei. „Wirklich?“, fragte er erstaunt. Ich nickte still. „Macht nichts“, erwiderte er. „Im Frühling finden wir den Schlitten schon wieder.“ Wir mussten keinen einzigen Schweizer Franken zahlen.

Das gesparte Geld gaben wir für einen wunderbaren Tessiner Rotwein aus. Als wir am Abend vor dem Kamin saßen, brachte ich einen Toast aus. „Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist!“ Im Sächsischen klingt das natürlich noch viel aufmunternder: Gopf hoch, och wenn dor Hals dreggsch is. Es ist nur eine Frage des Selbstbewusstseins.

Fragen zum Wir? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch GERÜCHTE