Hilfe, eine schöne Scharia!
SCHLAGLOCH VON CHARLOTTE WIEDEMANN Warum es so schwer ist, dem Islam eine Lobby zu verschaffen
Es gibt diese dunklen Tage, an denen möchte ich beim Lesen der Nachrichten nur die Augen schließen. Das kindliche Augenzukneifen: Ich bin nicht da. Die Welt ist nicht da. An diesen dunklen Tagen lese ich, wie ein Muslim dem anderen auf Sansibar Säure ins Gesicht schüttete, damit die falsche politische Meinung künftig ein monströs verunstaltetes Antlitz hat. An diesen dunklen Tagen lese ich, wie Muslimen in der Westgate Mall von Nairobi die Waffe an den Kopf gehalten wurde, während sie die Schahada, das Glaubensbekenntnis, aufsagen mussten, um auf die Seite der Überlebenswerten zu gelangen
Ich schreibe seit eineinhalb Jahrzehnten über muslimische Gesellschaften, ohne solche Momente selbst erlebt zu haben. Aber das nützt mir wenig an den dunklen Tagen. Im Gegenteil. Nähe erzeugt Schmerz. Mir fehlt die Distanz all jener, für die ein Muslim ohnehin ein Mensch fremder Sorte ist, ein Täter auf Abruf, dessen Taten nur die Erfüllung einer lange feststehenden Prophezeiung sind.
Liebe statt Furcht
Und dann lese ich, um den Reigen abzurunden, vom Urteil eines hohen Gerichts in Malaysia, wo ich einige Zeit gelebt habe: Christen dürfen Gott dort nun nicht mehr Allah nennen – wie sie es über Jahrhunderte hinweg taten, weil das Malaiische viele arabische Wörter aufgenommen hat. Dummheit kann so unerträglich sein wie Gewalt.
An hellen Tagen fällt mir dann wieder ein, was ich doch x-mal beschrieben habe: wie die Auswahl der Dunkel-Nachrichten entsteht. Es lebe das Negative, mehr Platz für den Horror! Ich sitze hier an einem Kreuzungspunkt aller Schreckensmeldungen, konsumiere eine tägliche Überdosis an Einseitigem. Wer da nicht islamophob wird, muss eine gute Abwehr haben. Doch wie schnell lässt sie nach! Wird Zeit, sie aufzufrischen: in einem Land, wo mich eine muslimische Mehrheitsgesellschaft umgibt – und mich wieder fühlen lässt, wo die Mehrheiten sind.
Vor der Abreise lese ich noch, nach Hellem gierend, das zweite Buch des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide: „Scharia – der missverstandene Gott“. Es handelt sich dabei, so viel vorweg, nicht um eine Auseinandersetzung mit jenen Körperstrafen, die hierzulande als erste mit dem Stichwort Scharia assoziiert werden. Tatsächlich umfasst Scharia, wörtlich „der Weg zur Wasserstelle“, die Summe aller religiösen Anleitungen, und Khorchide macht daraus, wie der Untertitel besagt, den Weg zu einer „modernen islamischen Ethik“. Sehr kurz gefasst: eine schöne, milde Scharia, die zu Gottesliebe einlädt statt zu Gottesfurcht. Das haben schon die Sufis vieler Jahrhunderte getan; aufgeschrieben liest sich das immer ein wenig schmalzig. Auch kommt Khorchide arg als Gottesversteher daher, eben zurückgekehrt vom Exklusivinterview. Breaking News: Gott will eine „dialogische Beziehung zum Menschen“!
Anbetung des Smartphones
Doch die Ablehnung, die dem Professor vonseiten vieler muslimischer Repräsentanten entgegenschlägt, hat andere Gründe: Es geht um seine Stellung als Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster und um die positive Resonanz auf sein Buch in nichtmuslimischen Medien. Ob sich Khorchide mit manchen Positionen, etwa der Öffnung des Paradieses für Nichtmuslime, jenseits aller islamischen Rechtsschulen befindet – das zu beurteilen steht mir nicht zu. Die verbreitete Befürchtung, die in Deutschland noch junge islamische Theologie solle einen politisch genehmen Staatsislam hervorbringen, ist nachvollziehbar – solange es in Staat und Medien die unverkennbare Tendenz gibt, Muslime in gute und böse zu sortieren, die soften zu umarmen und die rigiden in die Nähe des Terrorismus zu rücken.
Trotz alledem: Was ist so schlimm daran, den Islam in einer hochgradig islamfeindlichen Gesellschaft als eine leicht zugängliche, sympathische Barmherzigkeitslehre darzustellen? Die Deutschen werden wegen Khorchide kaum massenweise konvertieren. Sie könnten den Islam hingegen überhaupt einmal als Religion wahrnehmen mit ethischen Prinzipien, die ihnen vertraut vorkommen würden – und die zu leben ohnehin allen guttäte. Allahu Akbar, das Verbot der „Beigesellung“ – was bedeutet das in einer Zeit, wo manch einer, der gerade sein Smartphone anbetet, nicht einmal merkt, dass er dabei einem Rollstuhlfahrer den Weg blockiert?
Ich erinnere mich noch gut daran, was mich am Anfang für die sogenannte muslimische Welt und auch für den Islam als solchen eingenommen hat: Menschen, die mich mit Fürsorge und Humor empfingen und Frömmigkeit nicht zitierten, sondern lebten. Sie hatten die „geschmückten Herzen“, von denen Khorchide spricht, al-Ghazali zitierend. Was er bemängelt, habe auch ich später über die Jahre oft beobachtet: die Fokussierung auf Äußerlichkeiten und die Vernachlässigung religiöser und ethischer Verantwortung, wenn es um sogenanntes weltliches Handeln geht. Junge Muslime, die in Deutschland Umweltgruppen gegründet haben, wissen genau, was gemeint ist.
Intellektuelle Strahlkraft
Fatal ist: Für jene, die lange unter dem Scharia-Prügel gelitten haben, wird die schöne Scharia zu einem Dolch im Rücken
Womöglich ist Khorchide der falsche Mann, um Richtiges zu sagen. Oder er hat sich die falsche Bühne gesucht, wenn er im Verlag des Papstes (Herder) die Muslime kritisiert. Jedenfalls ist daraus etwas sehr Fatales entstanden: Muslime, die lange genug unter dem Scharia-Prügel der Mehrheitsgesellschaft gelitten haben, empfinden nun die schöne Scharia wie einen Dolch im Rücken. Wie entsetzlich unproduktiv ist das alles!
Das muslimische Leben in Deutschland hat bisher kaum intellektuelle und ethische Strahlkraft entwickelt, womöglich weil alle Anstrengung darauf gerichtet ist, staatlich und gesellschaftlich anerkannt zu werden und zugleich staatliche Einmischung abzuwehren. Das hat den Charme von Waffenstillstandsverhandlungen.
Ich wünsche mir, dass Muslime mit dem, was sie zu sagen haben, in diese Gesellschaft hineingreifen und sie verändern. Dafür müssten sie allerdings die Angst überwinden, irgendjemandem gefallen zu können. Oder ist nur ein abgelehnter Muslim ein guter Muslim?