: Ein magischer Tag im November
Als die Menschen anfingen auf der Mauer zu tanzen, waren wir schon eine Zeit lang Ostdeutschland-Experten. Susanne und Holger waren unsere Freunde geworden. Nachdem sie durch die Donau in Richtung Freiheit geschwommen waren, hat es sie in München angeschwemmt. Nicht nur ihre verrückte Fluchtgeschichte hat uns fasziniert. Die beiden haben derart von Leipzig geschwärmt, dass die DDR für uns schon Farbe angenommen hatte, lange bevor die dunkelgrauen Häuser in den Innenstädten neu getüncht worden waren. Susanne und Holger erzählten uns von den Umwelt- und Friedensgruppen, denen sie sich verbunden fühlten, und wir wurden mit ihnen gemeinsam traurig, wenn die beiden daran dachten, dass sie ihre Freunde so schnell nicht wiedersehen würden.
Nach dem Mauerfall haben wir uns schnell zum Feiern verabredet. Ganz viel und ganz lange haben wir getrunken. Im Leben wären wir nicht darauf gekommen, dass die zwei Ostler, die mit uns gesoffen haben, bald schon zu Ossis werden würden, auf die man mit dem Finger zeigt. Wir waren laut und haben laut gelacht. Als einer von uns meinte, er würde wetten, dass Deutschland innerhalb eines Jahres vereinigt ist, da ist es auf einmal ganz still geworden am Tisch. Niemals! Eingeschlagen. Wir haben um ein Fass Bier gewettet und wieder angefangen zu lachen.
Holger hat es nicht lange ausgehalten in München und ist zurückgegangen, wo er hergekommen ist. Susanne hat einen meiner Freunde geheiratet. Da war der Anschluss der DDR an die BRD schon vollzogen. Als wir das verwettete Fass Bier geleert haben, waren wir weit weniger laut und lustig als an jenem magischen Tag im November.
■ Andreas Rüttenauer, Jahrgang 1968