: Genossen ohne Trend
Die SPD hat weder ein zukunftsweisendes Programm noch eine überzeugende Führung. Daher wird sie die Spaltungen im Land nicht überwinden und keine Wahlen gewinnen
Jetzt kommt Kurt. Nach Oskar, Gerhard, Franz und Matthias wird der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck der nächste sozialdemokratische Hoffnungsträger. Seit 1998 ist es bereits der fünfte. Die Vorschusslorbeeren, mit denen Beck aus den eigenen Reihen bedacht wird, sind gewaltig. Je größer ihre Orientierungslosigkeit ist, desto größer scheint die Bereitschaft der Genossen, alle ihre Hoffnungen auf den jeweiligen Vorsitzenden zu projizieren. So hoch sind die Erwartungen, dass auch Kurt Beck nur scheitern kann – zumal er eigentlich ein Verlegenheitskandidat ist nach der innerparteilichen Demontage von Franz Müntefering und dem persönlichen Scheitern von Matthias Platzeck
Dabei scheint es der SPD gar nicht so schlecht zu gehen. Sie regiert im Bund bereits die dritte Legislaturperiode in Folge, stellt zwar nicht mehr den Kanzler, aber immerhin die Hälfte der Minister. Sie hat im letzten Bundestagswahlkampf die vorhergesagte Niederlage beinahe noch abgewendet. Bei allen Wählern unter 60 lag sie sogar vor der CDU.
Gleichzeitig hat das bürgerliche Lager keine Mehrheit. Ohne die SPD kann das Land nicht regiert werden. Als bei den Landtagswahlen im März sogar die lange Serie von Niederlagen beendet wurde und Kurt Beck in Mainz die absolute Mehrheit gewann, erklärte die Partei ihre Krise kurzerhand für beendet.
Nur mit viel Autosuggestion lässt sich dies jedoch als Trendwende deuten. Denn: Die Sozialdemokratie muss ihr Regieren mit einer Botschaft verknüpfen. Das unterscheidet sie grundsätzlich von ihrem Koalitionspartner. Für die CDU ist Regieren an sich ein Wert, für die SPD nicht. Ihre Basis will die Gewissheit haben, dass eine sozialdemokratische Regierung mehr Gerechtigkeit, mehr Wohlstand und auch ein bisschen mehr Frieden bringt.
Das Gegenteil ist derzeit Fall: Die Deutschen werden höhere Mehrwertsteuer, höhere Praxisgebühren und mehr Geld für ihre Altersvorsorge zahlen müssen. Ohne dass die SPD dahinter eine wirkliche Strategie erkennen ließe. Die Agenda 2010 hat sie zu Recht beerdigt, aber kleine Schritte allein sind auch kein Programm.
Dabei wären die meisten SPD-Wähler vermutlich sogar bereit, Opfer zu bringen, wenn die Belastungen gerecht verteilt würden, ein neues soziales Netz entstehen würde, das belastbar ist. Doch von der Bürgerversicherung hat sich die SPD in der großen Koalition klammheimlich verabschiedet, und trotz Aufschwungs entstehen keine neuen Arbeitsplätze. Das bedeutet weniger Wohlstand für alle und für Hartz-IV-Empfänger noch weniger Perspektiven. So verspielt man Vertrauen.
In Umfragen steht die SPD zwar noch bei rund 30 Prozent. Die schleichende Erosion der Wählerbasis ist jedoch längst wesentlich weiter fortgeschritten. Nur noch jeder achte Wähler traut der SPD zu, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu lösen. Dieses Misstrauen wird sich auch in Wahlergebnissen niederschlagen. Im Süden und im Osten der Republik ist die SPD schon eine 25-Prozent-Partei. Dieses Schicksal droht ihr auch bundesweit.
Will die SPD wieder Wahlen gewinnen, muss sie sich neu erfinden. Sie braucht eine politische Idee für das 21. Jahrhundert, die neues Vertrauen schafft und sie für neue gesellschaftliche Gruppen öffnet. In der alten Bundesrepublik war die SPD die Partei der Arbeiter, denen sie erfolgreich ein besseres Leben versprach und die sie mit dem Kapitalismus versöhnte. Als sich im westdeutschen Wohlstandsmodell die ersten Erfolge einstellten, die Arbeiterkinder an die Universitäten drängten, kamen nach 1968 die neuen Mittelschichten, Lehrer, Sozialarbeiter und Ingenieure hinzu. Nur so wurden sozialliberale und rotgrüne Bündnisse mehrheitsfähig.
Die alte Bundesrepublik existiert jedoch nicht mehr, die alten Milieus haben sich aufgelöst. Längst prägen neue Spaltungen das Land – zwischen denen, die von sicheren Arbeitsplätzen profitieren, und Langzeitarbeitslosen, die mit Hartz IV leben müssen und auch für ihre Kinder keinen Weg aus der Armutsfalle erkennen können; zwischen Deutschen und Einwanderern, denen die Integration erschwert wird; zwischen boomendem Westen und ostdeutschem Mezzogiorno.
Die SPD steht von allen Seiten unter Druck. Die CDU rückt unter Merkel nach links, einen neoliberalen Wahlkampf wird sie nicht noch einmal führen; diese Lektion hat sie gelernt. Die Grünen machen der SPD als postmoderne Großstadtpartei Konkurrenz. Die neue Unterschicht wählt entweder die Linkspartei oder im Osten aus Protest NPD. Die meisten wählen gar nicht mehr. Was für die SPD besonders dramatisch werden könnte: Inzwischen wendet sich teilweise auch die Kernklientel ab, die gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft in Westdeutschland. Zumindest ein Teil der aktiven Gewerkschaftsbasis setzt mittlerweile offen auf Zusammenarbeit mit der Linkspartei.
Die Parteistrategen wissen, dass die Erneuerung der Partei genauso notwendig wie risikoreich ist. Vielleicht erscheint sie zwischen praktischem Regierungshandeln und Flügelkämpfen deshalb wie gelähmt. Die kürzlich vorgelegten Programmthesen vom aktivierenden statt kümmernden Sozialstaat gehen in die richtige Richtung, lösen aber ihr Dilemma nicht. Sie erreichen die Adressaten nicht, weder die um ihren Wohlstand bangenden Arbeitnehmer noch die neue Unterschicht. Vor allem gibt es niemanden, der den neuen politischen Kurs überzeugend verkörpert. Die Sozialdemokratie hat ihre Wurzeln in der Selbstorganisation der Arbeiter. Die neue Unterschicht hingegen ist apolitisch, Immigranten werden ausgegrenzt, im Osten erreicht die SPD nur eine kleine Minderheit.
Für einen politischen Aufbruch müsste die SPD die neuen gesellschaftlichen Spaltungen thematisieren, die Lasten der sozialen Sicherung gerecht verteilen und der neuen Unterschicht Perspektiven aufzeigen. Doch der Partei fehlt es an Visionen – und an Führungspersonal. Die Brandt-Enkel sind abgetreten, und von den Brandt-Urenkeln hat noch keiner Wahlen gewonnen.
Kein Wunder also, dass die Wahl von Kurt Beck zum SPD-Vorsitzenden alternativlos erscheint. Doch sein pfälzisches Erfolgsrezept lässt sich nicht auf den Bund übertragen. Mit Weinfest-Gemütlichkeit und gebremster Reformrhetorik lassen sich die völlig unterschiedlichen Milieus kaum mobilisieren. Kurt Beck repräsentiert mit seiner klassischen Aufsteigerbiografie nur die alte westdeutsche SPD und lässt bislang wenig Mut zur Erneuerung erkennen.
Dabei führt an der Modernisierung, einem Generationenwechsel und der gesellschaftlichen Öffnung kein Weg vorbei, will die SPD wieder Wahlen gewinnen. Sollte sie programmatisch scheitern, dann bliebe der SPD nur die Hoffnung, dass der Aufschwung doch noch Arbeitsplätze schafft und die Linkspartei an sich selbst oder der WASG scheitert. CHRISTOPH SEILS