Ein Irrläufer von kafkaeskem Ausmaß

Manchmal merkt man erst mit dem Verlust der Brieftasche, dass die eigene Identität auf wackligen Beinen steht

Etwas war verloren gegangen wie immer am Anfang des Frühlings. Sonst war es meist die neue Sonnenbrille gewesen. Diesmal die Brieftasche. Sie war plötzlich weg. Vielleicht auch geklaut. Da oder dort am frühen Abend, vielleicht auch später. Mit allem drin – Geld, Ausweisen, Karten usw.

Das war ärgerlich, aber irgendwie schien mir der Verlust auch okay zu sein. Im Sinne des Karmas war der Verlust die Antwort auf falsches Denken, Fühlen und Handeln und löschte, wenn’s die richtige Antwort war, den spätwinterlichen Quatsch, in den ich mich hineingesteigert hatte, wieder aus.

Außerdem war ich ohnehin daran interessiert, mein Leben zu verändern. Da passte es, nun plötzlich ohne Identität dazustehen, also auf die Frage, ob man sich irgendwie ausweisen könne, nur mit Nein antworten zu können. Allerdings auch seltsam, dass man mir bei meiner Postbank deshalb auch keine Auskunft über etwaige illegale Kontobewegungen geben wollte. Wie auch immer.

Nach einer Weile zögerlichen Abwartens, in der mir niemand meine alte Identität zurückgeschickt hatte (stattdessen hatte ich einen Bußgeldbescheid über 80 Euro bekommen, weil ich zuvor anderthalb Jahre ganz ohne Perso rumgelaufen war), ging ich schließlich doch noch zum Bürgeramt in die Yorckstraße, um einen neuen Ausweis zu beantragen. Nachdem er meinen Namen in den Computer getippt hatte, hatte der zuständige Sachbearbeiter verschmitzt in seiner Strickjacke gelächelt und gesagt, er müsse mal schauen und komme gleich wieder. Leicht enttäuscht kam er zurück: Zwar sei mein Ausweis abgegeben worden, aber irgendwie trotzdem nicht da; ich solle am frühen Abend in der Dokumentenausgabe anrufen.

Die Frau aus der Dokumentenausgabe war freundlich und sagte, es sei wohl so, dass meine Brieftasche bei einer Polizeidienststelle abgegeben worden sei, da auch schon losgeschickt worden wäre – gefundene Papiere würden immer zur ausgestellt habenden Behörde geschickt – aber bis jetzt noch nicht eingetroffen sei. Ich solle doch morgen wieder anrufen.

Tag für Tag telefonierte ich nun – zweimal zuweilen – mit der Frau von der Dokumentenstelle. Sie sagte mir vieles: dass meine Brieftasche schon vor drei Wochen gefunden worden sei, dass der Finder keinen Finderlohn begehre, dass die Brieftasche wohl versehentlich ans Zentrale Fundbüro geschickt worden sei und dass man solche Fälle „Irrläufer“ nenne. Ich hatte das Gefühl, die gesamte Abteilung würde sich mit meinem Fall beschäftigen, und erfuhr auch, dass die zuständigen Spezialboten nur einmal in der Woche ihre Runde machten, und stellte mir gewissenhafte 90-jährige Boten wie bei Kafka mit komischen Handkarren vor, die müden Hauptes unendlich langsam zu Fuß sind.

Manchmal scherzte meine Sachbearbeiterin auch, alles werde schon seinen „sozialistischen Gang“ gehen. Als sie nach neun Tagen sagte, nun könne ich meine Papiere abholen, war ich fast ein bisschen enttäuscht. Ich hatte es auch genossen, ohne Papiere in einem Zwischenraum zu sein und nicht zu wissen, was auf meinem Konto los war.

In der Brieftasche fehlte nichts Wichtiges. Zur gleichen Zeit, als ich sie in Empfang genommen hatte, muss meine Mutter in Norddeutschland, in dem Haus, in dem ich meine Jugend verbracht hatte, meinen toten Vater gefunden haben. Mein Vater war ein Kriegskind gewesen, sehr gewissenhaft und sparsam. Meist hatte er geschwiegen, während die anderen sprachen. Er hatte, glaube ich, nur einmal in seinem Leben etwas verloren gehabt. DETLEF KUHLBRODT