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Archiv-Artikel

Hinein ins Ideenlager

Hier kann man zusehen, wie große Baukunst entsteht: Das Architekturbüro Herzog & de Meuron packt im Münchner Haus der Kunst seine Materialrecherchen auf die Tische: alles, was nötig ist, um für einen Ort und eine Aufgabe eine Form zu finden

Bauwerke sind sinnlich entwickelte Körper. Gute Architektur fordert und fördert den Menschen mit Sensationen

VON IRA MAZZONI

Wollten wir das nicht schon immer wissen: Wie entsteht Architektur? Oder besser noch, wie entsteht sensationelle Baukunst? Jacques Herzog und Pierre de Meuron, die unnahbar Perfekten, über jede Kritik Erhabenen breiten im Haus der Kunst ihr Ideenlager aus und laden das Publikum ein, auf rund 100 Tischen herumzustöbern. Wie auf einem Trödelmarkt findet man dort alles, was einmal dazu gedient hat, für einen bestimmten Ort und eine bestimmte Aufgabe eine Form zu finden. Architektur so lernt man, hat weniger mit Plan als mit lustvollem Spiel, weniger mit Computergrafik als mit materiellen Experimenten, sinnlichen Erfahrungen und einer nahezu kindlichen Neugier zu tun. Das Raumspezifische wird tastend gesucht.

„Irrungen und Wirrungen“ exzessiver Materialrecherchen sind offen dokumentiert. Vom Strich im Duodez-Skizzenbuch über gefaltete oder gebogene Pappen, ausgesägte und an den Rändern abgeschmirgelte Spanplatten, durchlöcherte Filze, auf Metallstäben aufgespießte Styroporwolken, Leuchtkästen mit farbigen Glaskugeln, verbogene Kupferröhren, bucklige Gipsleisten und faustkeilgroße Schweizer Kräuterzuckerbrocken reicht das Arsenal des formenden Denkens. „Abfallprodukte“ nennen die Architekten diese unscheinbaren, bizarren, wundersamen und großartigen Hilfsmittel des anschaulichen Entwickelns.

Gleichzeitig ist die Kuriositätensammlung auch Werk. Es trägt die Nummer 250 in einem Oeuvreverzeichnis, das seit Beginn der Ausstellungstournee im Baseler Schaulager 2004 auf 269 Projekte angewachsen ist. Werk 250 ist eine präzise Standortbestimmung. Auch deswegen wird es keine Wiederholung geben. Die Frage „Wie stellt man Architektur aus?“ ist ganz persönlich beantwortet: „Wir wollen zeigen, wie unsere Gebäude entstehen, nicht wie sie aussehen.“

Keine Signatur, sondern sinnlich erlebbare, orts- und raumspezifische Intellektualität – das ist das Werkstattgeheimnis des Baseler Büros. Es scheint, als seien Bauherren weltweit von der seriösen Tiefe der Gedanken- und Formexperimente fasziniert. Herzog & de Meuron kennen keine Regeln und Rezepte. Nur deswegen können sie immer wieder neu überraschen. Jedes Mal gelingt es ihnen, Bauherren und Öffentlichkeit zu außergewöhnlichen Wahrnehmungen zu verführen. Zurzeit bauen die Schweizer das Nationalstadion in Peking und entwickeln ein neues Stadtquartier für 300.000 Einwohner. In Hamburg konkretisiert sich die Vision einer Elbphilharmonie auf dem ehemaligen Kaispeicher A. Der Hafen von Santa Cruz de Tenerife wird neu definiert. Zwischen Prado und Reina Sofia entsteht das CaixaForum Madrid.

Wenn man die beiden Aufstockungs- und Überhöhungsprojekte in Hamburg und Madrid vergleicht, wird man feststellen, dass das formende Denken nie demselben Weg folgt. Es ist spannend, anhand der Modelle zu verfolgen, wie sich die Dachform in Madrid entwickelt, nachdem erste Kuppel- und Buckellandschaften verworfen wurden. Und es fasziniert, in die Eingeweide der bereits ikonisch gewordenen Elbphilharmonie zu blicken und die Metamorphosen des Orchestersaals von der eirunden Styroporhöhlung zu einem fulminant schwingenden Klangraum nachzuvollziehen.

Die verführerischen virtuellen Bilder, die bereits politisch wirksam in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlich wurden, fehlen in dieser Exposition. Stattdessen werden diese Draht- und Styropormodelle gezeigt, „ehrliche moralische, in dem Sinne archaische und altertümliche Objekte“, wie sie Jacques Herzog nennt, die „nur dazu dienen, wirklich einen Schritt weiterzumachen, einem das Brett vor dem Kopf durchlässiger zu machen“. Dabei hilft das Ausbreiten der Bastelarbeiten und Materialcollagen, den dicht bedruckten Architekturschleier vor den Augen des Publikums zu heben. Architektur ist kein hermetisches Spezialwissen, sondern Raumerleben.

Herzog & de Meuron, das ist längst nicht mehr ein Zweiergespann, das sich schon aus Kindertagen kennt. Die „Partner“ Harry Gugger, Christine Binswanger, Robert Hösl, Ascan Mergenthaler und Stefan Marbach erweitern das experimentelle Spektrum, und weltweit 200 Mitarbeiter treiben das ernste Spiel bis zur materiellen Manifestation. Die Ausstellung zeigt frühe Projekte des 1978 gegründeten Baseler Büros, etwa das Modell vom Steinhaus im Olivenhain von Tavole. Sie zeigt aber auch jüngste Mock-ups, konstruktive Details im Maßstab 1:1. Die Staffelung vom Miniaturformat bis zur saalhohen Rauminstallation beugt Ermüdungserscheinungen vor. Und zu schnuppern gibt es auch etwas: „Düfte“ aus dem Rhein. Gesammelt und konserviert von Architekten, denen bewusst ist, wie sehr ein Ort durch seinen spezifischen Geruch im Gedächtnis bleibt und daher auch ein Parfüm entwickeln wollten. Nur die Industrie hatte mal wieder die Nase vorn. Architektur ist ein langwieriger Prozess.

Wer sich nach Frischluft sehnt, der hat in München Gelegenheit, vier Projekte real zu erleben: Die 1992 eröffnete Sammlung Goetz in Oberföhring – eine minimalistische Kiste, das nahezu unbekannte Wohn- und Geschäftshaus in der Herrenstraße, das Altstadtimplantat „Fünf Höfe“ und die Pneu-Architektur der Allianz-Arena. Vier Antworten auf vier Orte, die kaum unterschiedlicher sein können. Da an einem Fifa-WM-Stadion keine werbenden Schriften erlaubt sind, wurde gegen alle Bedenken des Baureferats und der Stadtgestaltungskommission das Allianz-Logo von der gesponserten Fußballarena auf das Dach des Hauses der Kunst transferiert, das Direktor Chris Dercon als besondere Spielfläche entdeckt hat. Nun ist es offensichtlich, dass auch die Ausstellung durch die Unterstützung des Versicherers gewonnen hat – ein ganzer Raum ist mit den minutiösen Bildern sämtlicher Bauphasen des Stadions tapeziert.

Aber drückt die Dachinstallation dem Haus der Kunst gleich einen kommerziellen Stempel auf? Beherrscht die Schrift das Bauwerk oder das Bauwerk die Schrift? Ist die Arena – befreit von blauen Leuchtlettern – nun wieder öffentliche Plastik, eingebunden in eine Kunstlandschaft von Günther Vogt? Wird das Haus der Kunst durch die Montage privatisiert? Ist es so abwegig, sich Sponsorennamen an Kulturbauten vorzustellen? Ist es nicht sogar wahrscheinlich, dass an der unterfinanzierten Elbphilharmonie die Lettern und Symbole eines Dienstleisters oder Bankhauses prangen werden? Oder gibt es eine Tabugrenze, die zwischen Fußball und Kunst verläuft? Eine Diskussion um die Kultur des öffentlichen Raums ist entbrannt. Allein deswegen hat sich die Aktion gelohnt.

Ist diese Architektur Kunst?, fragten die Kritiker anlässlich der ersten Herzog-&-de-Meuron-Ausstellung im Kunstverein München 1991. Welch eine Frage! Bis ins 19. Jahrhundert, bis zu dem Zeitpunkt, wo sich die Architektur der technischen Innovation und dem Maschinenzeitalter verschrieb und von den Akademien zu den Technischen Universitäten abwanderte, sprach man selbstverständlich von Baukunst. Zwar behauptet Herzog, die Architektur sei den Künsten heute näher als je zuvor – aber eine Gleichsetzung lehnt er ab: „Architektur ist Architektur. Kunst ist Kunst. Architektur als Kunst ist unerträglich.“

Vielleicht gründet sich diese Abwehr auch auf einen missbrauchten Kunstbegriff. Die Methoden der Architekten, aus der Leere ein reales Objekt zu entwickeln, ähneln jedenfalls künstlerischen Prozessen. Auch haben die Architekten von Anfang an die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Künstlern gesucht. Remy Zaugg hat mit großen Worten und starken Farben neue Assoziationsräume geöffnet. Thomas Ruff sorgt dafür, dass das Bildliche auf die Architekturoberflächen zurückkehrt und sie durchdringt. Gleichzeitig nutzt der Fotograf die Bauwerke für neue Bilder. Neuerdings schärft der chinesische Videokünster Ai Weiwei die Wahrnehmung der Schweizer Baumeister. Es ist der jeweils andere Blick, der die eigene Neugier weiter anspornt. So entsteht dann unter anderem jenes verblüffende Mauerrelief aus aufgeschlagenen Lochziegeln. Dieses Probestück einer Formidee könnte von den Komplizen der Kunst zur Architektur weiterentwickelt werden, die nicht an der Fassade aufhört.

Bauwerke, das lehrt diese Ausstellung subversiv eindrücklich, sind sinnliche entwickelte Körper, die genauso sinnlich erfahren werden. Gute Architektur fordert und fördert den Menschen mit Sensationen. Man muss nur lernen, zu sehen, und sich trauen, räumlich zu fühlen. Insofern ist es konsequent, dass Herzog & de Meuron bei ihrer Ausstellung auf lange erklärende Texte genauso verzichten wie auf brillante Architekturfotos. Es ist dies vielleicht die erste und bisher einzige Architekturausstellung, die kein Fachwissen voraussetzt. Das Einzige, was man braucht, ist Zeit. Zeit zum Sehen, Entdecken und Nachdenken.

Bis zum 30. Juli