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Archiv-Artikel

das knie der großfürstin von EUGEN EGNER

Viel zu spät wurde festgestellt, dass sich das Knie der Großfürstin nicht im Stundentakt beugte, sondern immer eine Stunde zu spät. „Dabei wird es immer später!“, beklagte sie sich vollkommen zu Recht, denn schon jetzt war es, wie gesagt, viel zu spät. Mit dem Argument, es gehe doch nur um eine Stunde, hätte man ihr gar nicht kommen dürfen. Wie zum Beispiel sollte sie im Betstuhl bestehen?

„Gestern Abend ist mir mein Hintern schon so verdächtig vorgekommen“, klagte sie weiter, „und jetzt die Sache mit dem Knie.“ Auf den Hintern soll hier nicht weiter eingegangen werden, denn das wäre wieder eine Geschichte für sich. An dieser Stelle geht es um das Knie.

Man schraubte das Knie auseinander. Alles zerfiel, die Spule, die Platine, der Nerv, das Kranzgefäß. Draußen vor dem Fenster machte jemand Wasserzeichen, doch niemand interessierte sich dafür. Es zeigte sich nämlich soeben, dass das Knie der Großfürstin kein Funksignal empfing. Daher rührte die Unpünktlichkeit. Das Signal kam vom Fernsehturm in Steglitz, also von ziemlich weit her, aber auch wieder nicht so weit, dass es nicht bis zum Knie der Großfürstin hätte reichen können.

„Man muss dem Knie Zeit geben, das Signal zu empfangen“, meinte der hinzugezogene Geistliche, doch die Großfürstin wollte davon nichts hören: „Zeit! Zeit! Wenn ich das schon höre! Wie viel Zeit denn NOCH? Es ist doch ohnehin schon viel zu spät!“

Fieberhaft wurde nach Lösungen gesucht. Einige, die habituell zum Auseinanderschrauben von Dingen neigten, waren dafür, das defekte Knie weiter auseinander zu schrauben. Führende Spezialisten aber rieten davon ab, denn weiteres Auseinanderschrauben hätte, wie sie nachwiesen, weiteres Zerfallen, nicht zuletzt auf molekularer Ebene, bedeutet. „Nein“, entschied die Großfürstin daher, „kein weiteres Auseinanderschrauben mehr. Gebt mir nur etwas Zeit, etwa eine Woche, sagen wir bis Dienstag. Dann will ich das Ding schon richten. Manchmal muss man etwas nachhelfen.“

Bis Dienstag – das war eine lange Zeit für jemanden, dessen Knie sich immer eine Stunde zu spät beugte. Im Betstuhl konnte die Großfürstin unmöglich so lange bestehen. Der Geistliche sah schwarz. Allgemein neigte man zu der Ansicht, bis Dienstag zu warten sei Unsinn; ein neues Knie müsse her.

Es wurden Blumen abgegeben mit der Bemerkung, man halte ein Knie aus Gold für das unter solchen Umständen Gegebene. Selbstverständlich war für so etwas kein Geld da. Das neue Knie durfte nicht mehr als fünf Euro kosten. Ein Überschreiten der Summe war nicht möglich. Also wurde auf Dienstag gewartet.

„Wussten Sie“, fragte die Großfürstin zum Zeitvertreib, „dass den Alten das Knie als Geburtsorgan galt?“ Weil es niemand glauben wollte, wurden ein paar Alte gefragt, ob das denn wahr sei. Und wirklich bestätigten sie, sofern sie sich noch erinnern konnten, ausnahmslos: „Ja, uns galt früher das Knie als Geburtsorgan.“ – „Und heute?“ – „Heute sind wir zu alt dazu.“

Im Grunde handelte es sich um nutzloses Wissen, aber man war wenigstens vom Warten abgelenkt. Am Dienstag erinnerte sich dann sowieso kein Mensch mehr an die Großfürstin und ihr blödes Knie.