Andere Zustände

Wie das durchschnittliche Leben eines durchschnittlichen Achtzehnjährigen zerfällt und in ungeahnten Exzessen mündet: Christoph Hochhäuslers neuer Film „Falscher Bekenner“ ist eine bemerkenswert gekonnte Fallstudie über moderne Adoleszenz

von BERT REBHANDL

Die Steebs, die Tschenkos, die Matuscheks, die Fichtners: deutsche Familien in deutschen Einfamilienhäusern am Rande deutscher Städte. In diesem Milieu, in dem die Nachbarstochter „nach Düdorf ins Theater“ fährt und deren Freund mit einem schweren Motorrad durch die Gegend jagt, wächst Armin Steeb auf. Er ist 178 Zentimeter groß und 56 Kilogramm schwer. Die Haare sind blond, die Farbe seines Hemds könnte er nicht angeben, wenn er die Augen verschließt. Armin muss viele Fragen beantworten. Jeden Tag einen Bewerbungsbrief, das hat er den Eltern versprochen. Jede Woche ein Bewerbungsgespräch. „Wie sehen Sie sich selbst?“, fragt ein schlauer Personalchef. Armin reagiert verständnislos. Wie sieht ein Achtzehnjähriger sich selbst?

Christoph Hochhäusler riskiert in „Falscher Bekenner“ einige Vermutungen. Wenn nicht alles täuscht, ist das ein Film über Achim, der durch dessen Selbstwahrnehmung hindurch gesehen ist. Die Bilder sind von beeindruckender Klarheit und präzise komponiert. Aber sie rühren sich manchmal einfach nicht vom Fleck, während doch im Berufsleben schnelle Reaktionen gefragt sind. Die Bilder zeigen Ausschnitte aus dem westdeutschen Alltag, aber sie zeigen keinen Zusammenhang. Armin Steeb (Constantin von Jascheroff) ist der dritte Sohn einer Familie, die fast ein wenig mustergültig ist. Die Mutter Marianne (Victoria Trautmannsdorf) wirkt jugendlich und witzig. Sie hat Gefallen am Leben, und ihren älteren Mann Martin (Manfred Zapatka) mag sie auch gern. Die beiden älteren Söhne Martin jr. (Devid Striesow) und Stefan (Florian Panzner) sind aus dem Haus, aber nicht aus der Welt. Man hält zusammen, beim Kaffee am Sonntagnachmittag darf der Vater sogar lässig herumlungern.

Es geht angenehm formlos zu bei den Steebs. Das Jugendzimmer von Armin ist mit allen technischen Geräten ausgestattet, die heute dazugehören. All das setzt Christoph Hochhäusler allmählich zusammen, ohne dass er darauf bestehen würde, dass dieser Zusammenhang so bedrückend wäre, dass Armin ihm unbedingt entfliehen müsste. Er befindet sich einfach an einem wichtigen Punkt in seinem Leben. Weil er zwei ältere Brüder hat, muss er nicht zum Bund. „Auf dem Arbeitsmarkt“ hat er dadurch einen Vorsprung, wie seine Eltern meinen. Armin sieht sich aber nicht in der Lage, diesen Vorsprung zu nutzen.

Bewerbungsgespräche fungieren in „Falscher Bekenner“ wie ein Leitmotiv. Durchweg wird erwartet, dass Armin sich als er selbst zu erkennen gibt und zugleich als die wertvolle Arbeitskraft, die er werden sollte. Er soll authentisch und konstruktiv sein, er soll sich bekennen – zu sich selbst und zu dem Unternehmen, in das er eintreten will. Hier nimmt Hochhäusler die kleine, aber entscheidende Verschiebung vor, die seinem Film den Titel gibt. Statt einer weiteren Bewerbung schreibt Armin einen Brief an die Polizei, in dem er sich die Schuld an einem Autounfall, bei dem ein Bankier getötet wurde, zuschreibt. Er bewirbt sich um die Urheberschaft für ein Unglück, dessen Zeuge er zufällig wurde. So wird er ein „Falscher Bekenner“.

In distanzierten Bildern verfolgt Hochhäusler nun, wie Armins Leben allmählich zerfällt. Auf einer öffentlichen Toilette kommt er an eine Telefonnummer, die ihn mit den „Düsselbikers“, einer lokalen Rockergruppe, in Verbindung bringt. Er lässt sich von den Ledermännern sexuell gebrauchen, während er gleichzeitig die Nachbarstochter Katja verfolgt, deren adrette Selbstsicherheit auf dubiose Selbsterfahrungsseminare zurückzugehen scheint. „Der Terror rückt näher“, schreibt eine lokale Boulevardzeitung, und Hochhäusler lässt offen, ob sich das nun auf ein Großfeuer in der Innenstadt bezieht (zu dem Armin sich auch bekennt) oder auf tatsächliche Terroranschläge in europäischen Großstädten.

„Sie haben Ihre Mitte noch nicht gefunden“, sagt ein Mann einmal zu Armin. Der Satz trifft auch auf den Film zu, der sich mit zunehmender Dauer immer stärker in den „anderen Zustand“ hineinbegibt, in dem Armin lebt. Hochhäusler betont diese Verfremdung durch einen modernistischen Soundtrack und steigert die Irrealität bis zu einer irritierenden Szene, in der Armin sich bei einem Begräbnis einschleicht und dort eine Zerfallserfahrung macht, die der bis zum Ende ungerührt und souverän durchkomponierte Film für sich selbst nicht zulässt. Hochhäusler macht sich die Beobachterposition zu Eigen, die Musil in seinem Text über „Das Fliegenpapier“ modellhaft entworfen hat: Fasziniert, aber ungerührt sieht er einem Wesen dabei zu, wie es sich bei seinen Befreiungsversuchen zerstört. Dabei bleibt allerdings durchaus unklar, wie viel für Armin durch seine Bekennerbriefe tatsächlich auf dem Spiel steht.

Was Bernhard Keller mit seiner luziden Kameraarbeit freilegt, wird in der Montage, die nicht selten Szenen zu früh abbricht und manchen Suspense zu elliptisch ins Leere laufen lässt, häufig wieder mysteriös. Christoph Hochhäusler hat schon in „Milchwald“ gezeigt, dass er zum fantastischen Genre neigt. Auch „Falscher Bekenner“ hält es kaum in der profanen Realität der Steebs, der Tschenkos, der Matuscheks, der Fichtners. Armin kennt den Weg zu ungeahnten Exzessen. Aber er beschreitet ihn weitgehend teilnahmslos, er bleibt der „Waschlappen“, als den ihn seine Brüder sehen. Er bleibt auch das Objekt des Filmkünstlers Christoph Hochhäusler, der mit bemerkenswerter Könnerschaft eine Fallstudie über moderne Adoleszenz vorlegt, ohne seinen Protagonisten auch nur eine Sekunde in eine Freiheit jenseits der Ästhetik zu entlassen.

„Falscher Bekenner“, Regie und Buch: Christoph Hochhäusler. Mit Constantin von Jascheroff, Victoria Trautmannsdorf, Manfred Zapatka u. a. D 2005, 94 Min.