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Archiv-Artikel

Was macht eigentlich Bärlach?

Der Richter und sein Henker. Wiederbegegnung mit einer vergreisten Romanfigur

Was ist eigentlich aus dem alten Kriminalisten Bärlach geworden? 1952 hatte er in Friedrich Dürrenmatts Krimi „Der Richter und sein Henker“ als Berner Kommissär auf dem vorletzten Loch gepfiffen, dann aber, als Romanfigur einer Pflichtlektüre, einen Triumphzug ohnegleichen angetreten, der ihn jahrzehntelang durch tausende von Mittelstufenklassenzimmern führte.

Wie es dazu kommen konnte, lässt sich heute nur noch mühsam rekonstruieren. Den haarsträubend beknackten Plot – todkranker Kommissär ringt mit Großbösewicht und arrangiert dessen Ermordung durch einen verbrecherischen Hilfspolizisten – hatte Dürrenmatt schlampig zusammengenagelt und die Löcher im knirschenden Gebälk der Romanhandlung mit einer zähen Füllmasse eingespeichelt, die in Deutschlehrerkreisen als Kunstprosa durchging: „Der Alte saß jetzt unbeweglich, er schien nicht einmal mehr zu atmen, das flackernde Licht umfloß ihn mit immer neuen Wellen, rotes Feuer, das sich am Eis seiner Stirne und seiner Seele brach.“

„Am Eis seiner Stirne und seiner Seele“ – mit solchem Schabernack sind Generationen von Schülern gefoppt worden. Im elften Kapitel der Kriminalromanschnulze schleudert der Verbrecher, „genau und scharf Bärlachs Wange streifend“, ein Messer in das Holz des Lehnstuhls, in welchem der Kommissär Platz genommen hat, und am Ende des Kapitels windet sich Bärlach in Krämpfen auf dem Teppich und stöhnt: „Was ist der Mensch?“

Das hätte sich auch Derrick fragen können, wenn er von seinem Schöpfer Herbert Reinecker jemals auf das ärmliche Niveau des Trivialliteraturgeschöpfs Bärlach hinabgestoßen worden wäre. Wir haben den moribunden Kommissär in einem Berner Altersheim aufgespürt und nachgefragt, wie es ihm geht:

„Herr Bärlach?“ Der Alte erschrickt. „Herr Bärlach, würden Sie uns eine Frage beantworten?“ Der Alte macht große Augen. „Herr Bärlach, wie fühlen Sie sich als totgeborene Figur eines hölzern erzählten Kriminalromans, der so doof ist, dass sich den Menschen, die ihn einst als Schüler lesen mussten, beim Wiederlesen vor Grausen die Zehennägel aufbiegen?“

Bärlach schweigt.

„Es war für uns die Hölle“, sagen wir.

„Es war für uns alle die Hölle“, ächzt der Alte, mit fürchterlicher Ruhe. „Ich wusste es vom ersten Moment an.“

Er verzieht keine Miene. Es ist, als ob ihn nichts mehr interessiere als die Mehlspeise, die er in sich hineinschlingt.

„Herr Bärlach?“

„Ja, bitte?“

Mit „brennenden Augen“ (Dürrenmatt) sieht Bärlach auf. „Es tut uns Leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber die Romane, in denen Sie persönlich vorkommen, sind Schrott. Die sind unbeholfen konstruiert und saumäßig schlecht erzählt.“

Bärlach „taumelt“ (Dürrenmatt). Es „überläuft ihn eiskalt“ (Dürrenmatt). Dann sagt er: „Bestie gegen Bestie.“ Und dann lässt er den Kopf in seine Mehlspeise sinken, „verwachsend mit der Nacht“ (Dürrenmatt), „und wie die Türe ins Schloss fällt“ (Dürrenmatt) und wenig später draußen der Leichenwagen davonfährt, erlischt die Kerze, Dürrenmatt und Bärlach noch einmal in das Licht einer grellen Flamme tauchend.

Und dann sind wir sie alle los – den Richter und den Henker und ihren Erfinder Dürrenmatt. Wir werden sie nicht vermissen.

GERHARD HENSCHEL