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Archiv-Artikel

Nebeneinander von Liebe und Tod

Düster und romantisch: Rabea Edel erzählt in ihrem Debütroman „Das Wasser, in dem wir schlafen“ die Geschichte zweier Schwestern, die im Lauf ihrer Kindheit und Jugend in einen Strudel der Rivalitäten geraten

von LEA STREISAND

Alles beginnt mit einem Blechschaden: Die ältere Schwester schaut zu, wie die jüngere gezeugt wird. An einem Autobahnrastplatz, auf einer Rückbank, „im Monat der Schlammfliegen“. Der Orgasmus des Vaters löst die Handbremse im Rücken der Mutter, und der Wagen rollt gegen den Baum, unter dem die Ich-Erzählerin sitzt. Von diesem Zuviel an Nähe, dem Nebeneinander von Liebe und Tod erzählt die 23-jährige Rabea Edel in ihrem Debütroman „Das Wasser, in dem wir schlafen“.

Es ist die Geschichte zweier Schwestern, die, von den Eltern verlassen oder kaum beachtet, im Laufe ihrer Kindheit und Jugend in einen Strudel der Rivalitäten geraten. Erst ringen sie um die Aufmerksamkeit der Mutter, später um die von Gregor, dem ersten Freund. Am Ende ist die Jüngere tot. Und die Ältere erzählt.

Rabea Edel, die 2004 mit einem Auszug aus diesem Roman den Open Mike in Berlin gewann, verarbeitet in ihrem Buch eine Vielzahl romantischer Bezüge. Natursymbolik untermalt die tragische Familiengeschichte. Katzen schleichen durch die Gegend und werden vom Dach geworfen, Vögel sitzen bedrohlich auf Strommasten oder ziehen verheißungsvolle Kreise, Schlammfliegen erfüllen braun und widerlich ihre Funktion als Todesmotiv. Edel greift das Schlammfliegenmotiv und die suizidalen Schwestern aus Jeffrey Eugenides Roman „Virgin Suicides“ auf. Hitchcocks „Vögel“ flattern durch den Text, und die Nebelschwaden aus Storms „Schimmelreiter“ standen vermutlich ebenso Pate wie die magnetisierende Dunkelheit eines E.T.A. Hoffmann.

Der Titel „Das Wasser, in dem wir schlafen“ suggeriert eine Parallele zu den Traumwelten des frühen 19. Jahrhunderts, da Schlaf als Zustand des Unbewussten, Geheimnisvollen galt. So überrascht es nicht, dass die ätherische jüngere Schwester Lina fast ausschließlich zwei Hauptbeschäftigungen nachgeht: schwimmen und schlafen. Ihr Tod durch Ertrinken ist nur logische Konsequenz. Schon die Romantiker wussten, dass der Tod „Schlafes Bruder“ ist. Auch der Erzählstil ist dem romantischen Märchen entlehnt: von „Mutter“ und „Vater“ ist die Rede, doch folgen die Eltern hier nicht ihrer überlieferten Bestimmung. Die Mutter ist eher Elfe denn Beschützerin, eine schöne Unberührbare. Nach der Schwangerschaft wird sie von einer Art postnatalen Depression befallen, die nach Jahren des lethargischen Aus-dem-Fenster-Starrens in der Flucht aus dem Einfamilienhaus gipfelt. Anders als in der feministischen Literatur der Siebzigerjahre wird der Befreiungsschlag der Mutter aus der Sicht der Kinder gezeigt. Sie werden im Stich gelassen. Der Vater vergräbt sich in seinem Arbeitszimmer. Die Schwestern bleiben allein, rücken enger zusammen, verwahrlosen zusehends. Irgendwann hat der Vater eine neue Freundin, Evá, neben Gregor und Lina der einzige Name auf 160 Seiten. Sie ist ein Lichtblick in der traurigen Dunkelheit. Sie hält den Verfall eine Weile auf, aber ihr Versuch, Ordnung und Wärme in die verkorkste Familie zu bringen, scheitert.

Die hassgeliebte Schwester Lina schließlich trägt alle Attribute einer todessehnsüchtigen Meerjungfrau: „Ich war neidisch auf ihr Haar, das knisternd um ihren Kopf stand, auf die Sommersprossen um ihre kleine Nase, auf ihre Biegsamkeit. Lina roch anders als ich. Sie roch nach abgestandenem Wasser, nach Hagebutten, nach zu lange getragenen Slips, nach Haarspray. Sie roch süß und cremig, sie roch mit vierzehn schon wie eine erwachsene Frau, und tat Dinge, die nur ein Kind tun würde, mit dem Gleichmut einer alten Frau. ‚Wir sind nicht nur gegen das Glück abgehärtet, sondern auch gegen alles andere, was uns passieren könnte‘, sagte Lina.“

Rabea Edels Sprache steht in beruhigendem Gegensatz zur gefühlvoll aufgeladenen Handlung. Nüchtern, fast abgebrüht beschreibt sie die Zeugung der Schwester, die tragische Beziehung der beiden sowie den Tod Linas. Es ist die Sprache einer Ich-Erzählerin, die anscheinend zu viel gelitten hat, um schockiert zu sein. „Das Wasser, in dem wir schlafen“ hat keine räumlichen oder zeitlichen Fixpunkte. Man weiß weder wo noch wann der Roman spielt. Den Rahmen bildet die namenlose Schwester, die, von aller Welt verlassen, auf der Veranda des Elternhauses sitzt und Gregor, dem Geliebten, das kurze Leben Linas erzählt. Ein Kunstgriff, der die ganze Geschichte infrage stellt – so bleibt am Ende ein dunkles Geheimnis.

Traurig ist dieses kleine Buch, hoffnungslos. Und das trotz der Jugend der Autorin. Doch ist das nur scheinbar ein Widerspruch. Edels Roman thematisiert die individuellen, intimen Fragen des Erwachsenwerdens. Anders als Eugenides, Hitchcock, Storm oder E.T.A. Hoffmann zeichnet Edel kein verstörendes Gesellschaftsporträt. Ihre Geschichte steht für sich. Sie umfasst das Universum eines heranwachsenden Kindes und einer jungen Frau: das Geburtshaus, die Familie, den ersten Freund. Und sie dreht sich um die Probleme derer, die keine materiellen Sorgen kennen: Sehnsucht, Einsamkeit, Entmenschlichung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Rabea Edel: „Das Wasser, in dem wir schlafen“. Luchterhand, München 2006, 160 S., 16,95 €