Die Gewissheit durchlöchern

FOTOGRAFIE Ein Grübler auf hoher See, unterwegs zu neuen Formen: Sven Johnes fotoliterarische „Berichte zwischen Morgen und Grauen“ im Frankfurter Kunstverein

Nach all den verkrachten Konzeptualisten der vergangenen fünfzehn Jahre ist diese Art des belesenen Zweifels, des zweiflerischen Schauens eine erfrischende Alternative

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt. Das war der Lieblingssatz des Professors Timm Rautert in Leipzig. Einer seiner Schüler, Sven Johne, hat sein ganzes Werk auf diesen Ausdruck methodischen Zweifels gebaut. Allerdings präsentiert er nicht den Zweifel, sondern im Gegenteil Gewissheit. Die Gewissheit ähnelt der Wirklichkeit, ja verdeckt sie; man muss, um einen Begriff der Wirklichkeit zu bekommen, die Gewissheit durchlöchern. Deshalb ist die Arbeit nur teils zu betrachten. Man muss sie auch entziffern.

Buchstäblich übrigens, denn Sven Johne zeigt im Frankfurter Kunstverein ein etwa zur Hälfte geschriebenes, zur anderen Hälfte bildhaftes Werk. Schon seine Abschlussarbeit aus Leipzig besteht aus Bildern, deren Verglasung beschriftet ist, so dass, wenn man zurücktritt, der Textblock das Bild schraffiert; wenn man herantritt und liest, gerät das Bild dahinter in Bewegung. „Ship Cancellation“ erzählt von fünf Frachtern, die über einen Zeitraum von 200 Jahren versunken sind, aus der Perspektive jeweils eines Überlebenden. Die Bilder zeigen nichts anderes als Meereslandschaften in Aufsicht, das fotografische Argument der Abwesenheit.

Konträre Blicke

Johne stammt von der Insel Rügen, aufgewachsen vor 1989, und er hat es mit der Schifffahrt selbst probiert. In seiner Arbeit bedient er sich konträrer Blicke, dem nach außen und dem nach innen gekehrten. Für den nach außen gerichteten Blick ist das Meer das Exempel. Die Introspektion bedient sich des Interieurs. Die beiden filmischen Arbeiten der Frankfurter Ausstellung spielen in Studios, mit einem Hang zur Klaustrophobie, zur Angst, zum Gift.

Aus Rügener Sicht ist die Seefahrt nicht nur die Seefahrt, sondern das andere schlechthin. Das zeigt der dringlichste „Bericht“, zwei gewaltige Schaukästen mit jeweils hunderten von postkartengroßen Seestücken, die erste Gruppe ist schwarzweiß, die zweite in Farbe. Es sind Tableaux mit Ansichten der Ostsee, die schwarzweißen Postkarten wirken vage, gruselig und klandestin, so als wäre die Ostsee zu fotografieren ein Spionageakt, die zweite Gruppe ist in lässiger bis nachlässiger Weise heiter; ein am Kitsch entlangwatendes Wischiwaschi von Küstenlicht, das aus Gerhard Richters „Atlas“ stammen könnte. Die Bildgruppen würden auch ohne Text bestehen.

Der begleitende Text, hier als Wandbeschriftung, erzählt die Geschichte eines Alfred Kleistners, der an der Ostseeküste Langstrecken zu schwimmen übte und dann, an einem Julitag im Jahr 1976, nach Fehmarn rüberschwamm. Als Unternehmer ist er in den Neunzigerjahren nach Rostock zurückgekehrt, und dann erfolglos, nimmt er sich am Ostseestrand, wo einst seine Flucht begann, das Leben. Er hinterlässt ein Werk als Fotoamateur, aus dessen Fundus sich die Konzeptarbeit bediene. So weit das Konstrukt.

Das, literarisch, natürlich geborgt ist: Fiktionen aus „gefundenen“ Archiven finden sich von „Gullivers Reisen“ bis zum „Werther“ und jüngst auch in Ingo Schulzes „Neue Leben“. Sven Johne schreibt nur noch das „Vorwort des Herausgebers“, die Erzählung selbst ist fotografisch. Das ist recht gewagt, die spektakuläre Flucht Peter Döblers (siehe taz nord vom 5./6. September 2009) mit dem Motiv des Selbstmords zu verknüpfen, in der Tat ein Phänomen der Postwendeblase im deutschen Osten. Vor allem tönt die Story den Blick auf die detailverliebten, aber mit großer Geste assemblierten Seestücke: Der klandestine Block steht dann für Aufbruch und Hoffnung, der Kitschblock für Vollendung und Tod.

Düstere Pfade

Hier genau liegt der Bedeutungsgewinn durch die unterlegte Fiktion (den Tausch des Namens, die Montage von Biografien). Die Dekonstruktion von Gewissheit ist Motiv und Antrieb dieses Künstlers, gewiss. Dennoch muss der Betrachter/Leser nicht Detektiv spielen, um Johnes exzentrische Konzeptarbeit zu genießen. Je düsterer der Pfad, auf dem der Künstler wandelt, desto leichter folgt man ihm: Eine nächtliche „Wanderung durch die Lausitz“ entlang eines Wolfspfads erzeugt körnige Schemen aussterbender brandenburgische Dörfer, begleitet von aberwitzigen potemkinschen Legenden. Wird schon stimmen!

Die lakonischen Texte und die auf Pastiche getrimmten Fotografien sind als solches keine Sensationen. Vorläufer unter den Fotografen wären Ulrich Tillmann oder Joan Fontcuberta, die die dokumentarische Suggestion der Fotografie durch realistischen Spuk konterkarieren wollten. Typisch dafür ist der radikale Stilwechsel mit jedem neuen Sujet. Der Ton der Anekdoten ist wohl bei Alexander Kluge abgelauscht, Kempowski schwappt hinein, Arno Schmidt. Manchmal reichen Johne Schreibmaschinenblätter, auf die Wand geklebt zwischen gerahmte Fotografien, oder eine Copyshop-Wandzeitung ostdeutscher Kuriosa. Da denkt man an die älteren Konzeptualisten wie Hans-Peter Feldmann und Stephen Willats und an den bilderstürmerischen Effekt der Künstlersoziologie.

Was Sven Johnes „Berichte zwischen Morgen und Grauen“ – so heißt die Ausstellung – attraktiv macht, ist die distinkte Gestalt jeder Werkgruppe, mal kalt, dann wieder auratisch. Johne gibt sich nicht zufrieden mit seinen exzeptionellen Funden. Der Grad der literarischen Verwandlung ist betörend, die Euphorie bei der Entdeckung der visuellen Nische spürbar.

Es trifft sich gut, dass im gleichen Haus die Finalisten des Deutsche Börse Photography Award gezeigt werden. Die Preisträgerin ist Sophie Ristelhueber, eine Künstlerin, die sich mit rein fotografischen Mitteln schwierigen globalen Themen widmet, kunstvoll und enigmatisch, detailbesessen und im großen Format. Hier sieht man den Endpunkt dessen, was vor vierzig Jahren als „Fotografie der Autoren“ begonnen hat, die Abkehr vom Redaktionellen, die Etablierung eines fotografischen Werkbegriffs. Die Wurzel ist authentisch, das Bild ikonisch mehrfach überlagert. Der Kommentar ist verbannt in die Interpretation. Anders gesagt: Die reine Fotografie ist dabei, esoterisch zu werden.

Sägen am Ast der Fotografie

Kunstimmanent betrachtet, könnte man Sven Johnes „Grauen“ für ein Sägen am Ast fotografischer Tätigkeit halten. Tatsächlich ist das, was er betreibt, die Alternative zur digitalen Ikonografie. Die digitale Montage möchte als Fotografie betrachtet werden, verbirgt also ihr konstruktives Element. Die fotoliterarische Erzählung dagegen ist systematisch nahezu transparent.

Nach all den verkrachten Konzeptualisten, die uns in den vergangenen fünfzehn Jahren belehrt haben über den Zustand der Welt, ist diese Art des belesenen Zweifels, des zweiflerischen Schauens eine erfrischende Alternative. Sven Johne ist ein ostdeutscher Grübler auf hoher See, unterwegs zu einer neuen Form.

■  Frankfurter Kunstverein, Frankfurt am Main, bis zum 25. Juli 2010