: Nächster Halt: Römerfriedhof
AUS KÖLN DIRK ECKERT
Lange kann Hubert Berke das Knochenstück nicht halten. Mit beiden Armen stemmt er das längliche Stück hoch und ist froh, als er den 20-Kilo-Brocken wieder absetzen kann. Identifizieren kann er es leichter, denn als Paläozoologe beschäftigt er sich mit fossilen Tieren. Das Knochenstück gehört zu einem Nashornschädel. Der wurde jüngst bei den Ausgrabungen auf dem Grund des früheren römischen Hafens gefunden, der heute tief unter der Kölner Altstadt liegt.
Ein Nashorn nördlich der Alpen? Für die Ausgräber eine kleine Sensation nach drei Jahren harter Grabungsarbeiten in der Kölner Unterwelt. Bis 2010 soll in Köln eine neue, 4,3 Kilometer lange U-Bahn-Linie gebaut werden. Die Strecke verläuft in Nord-Süd-Richtung unter der heutigen Altstadt. Hier hatten die Römer vor über 2.000 Jahren für den Stamm der Ubier eine Stadt gegründet, aus der das heutige Köln entstanden ist.
Das Römisch-Germanische Museum der Stadt spricht von „einem der größten archäologischen Unternehmen in einer europäischen Metropole, vergleichbar der U-Bahn-Archäologie in Athen, London oder Neapel“. Zwar verläuft die Kölner U-Bahn größtenteils unterhalb der archäologischen Schichten, die teilweise über 13 Meter dick sind. Aber insbesondere an den Haltestellen wird ein Stück des unterirdischen Archives unwiederbringlich zerstört; die Archäologen rechnen mit einer Gesamtfläche von 30.000 Quadratmetern. Der einzige Trost: Für die Rettungsgrabungen stehen 14 Millionen Euro bereit. Bis 2010 wird gegraben, gerade ist Halbzeit. Rund hundert Fachkräfte, darunter Archäologen, Ausgrabungstechniker, Bauhistoriker, Grabungskräfte und Zeichner sind beteiligt. Bauherrin sind die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB), die Fachaufsicht bei den Ausgrabungen hat das Römisch-Germanische Museum.
Dass mit Berke gleich ein Paläozoologe zur Stelle war, als das Schädelteil des Nashorns entdeckt wurde, war kein Zufall. Hubert Berke ist ständig bei den Ausgrabungen dabei, um alle Tierknochen zu untersuchen, die aus der Kölner Altstadt geborgen werden. Die Ausgräber gehen von mindestens 100.000 Knochen aus. Anhand solcher Funde untersucht Berke beispielsweise die Entwicklung der Haustiere. Verschiedene Ochsenknochen, die in der Kölner Unterwelt gefunden wurden, zeigen, wie die Tiere über die Jahrhunderte immer kleiner wurden – ein Beleg für eine „deutliche Verbesserung der Tierzucht“, wie Berke sagt.
Worte wie „Haustierforschung“ gehen den Archäologen von heute wie selbstverständlich über die Lippen. Längst sind die Ausgräber darüber hinaus, alles außer Bauten, Inschriften und Goldschmuck als Schutt wegzukippen. Tierknochen, Scherben, Kämme – all diese Gegenstände können eine Geschichte erzählen und einen Beitrag dazu leisten, die Entwicklung von der Ubier-Siedlung zur modernen Großstadt nachzuvollziehen. „Umweltarchäologie“ ist der Fachterminus für diese Art Forschung.
Im Falle Kölns scheinen die Archäologen sogar eine regelrechte Phobie zu haben vor großen Funden. Geradezu ein Alptraum wären Schiffwracks im römischen Hafen. Ihre fachgerechte Ausgrabung hätte eine enorme Zeitverzögerung zur Folge. „Wir sind bisher davon verschont geblieben“, sagt Hansgerd Hellenkemper, der Direktor des Römisch-Germanischen Museums der Domstadt, offen.
Ganz ohne einen Hauch von Entdeckergeist geht es aber trotzdem nicht. Stolz präsentieren die Kölner Verkehrsbetriebe einige Fundstücke in einem eigens geschaffenen kleinen Museum (siehe Kasten). Dazu gehören zwei Glasurnen, die unter den Überresten eines römischen Friedhofs gefunden wurden; die zerbrechlichen Gefäße befanden sich in Kalksteinbehältern und sind daher ganz erhalten. Ebenfalls in der Südstadt, die überregional vor allem als Karnevalsviertel und Heimat von BAP-Sänger Wolfgang Niedecken bekannt ist, wird nach der Stadtmauer gegraben, die erst Ende des 19. Jahrhunderts durch die Entwicklung weit reichender Waffen überflüssig geworden war.
Neue Erkenntnisse erhoffen sich die Archäologen vor allem über die Entwicklung Kölns im Mittelalter. Erst seit den Grabungen in den 90er Jahren auf dem Heumarkt ist überhaupt gesichert, dass Köln auch nach Ende des Römischen Reiches kontinuierlich bewohnt war. Doch wie intensiv die Stadt besiedelt war, ist noch unklar. Antworten könnten die Ausgrabungen auf dem Alter Markt bringen. Zu römischer Zeit war hier der erste Hafen, der jedoch bereits im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ganz zugeschüttet wurde. Reste der römischen Kaimauer aus Eichenpfählen sind nun gefunden worden. Derzeit werden sie restauriert, später sollen sie im Römisch-Germanischen Museum ausgestellt werden, wo schon heute der Nashornschädel zu sehen ist. Auf dem alten Hafen und der einst vorgelagerten Rheininsel entstand später die heutige Altstadt. Was nebenbei erklärt, warum die Kölner Altstadt ständig überflutet ist: Das Gelände gehört eher zum Fluss als zur Stadt, die deutlich höher liegt. Die Vorteile der Flusslage überwogen aber ganz offensichtlich die Nachteile, die der Siedlung durch das Hochwasser entstanden. Die Archäologen haben eine „intensive Besiedlung“ entdeckt. „Hier war Boomtown“, sagt Museumsdirektor Hellenkemper.
Im Hafenbecken, auf der Höhe des heutigen Kurt-Hackenberg-Platzes, wurde auch das Nashornstück entdeckt. Wie kam es hierher an den Rhein, auf den Grund eines römischen Hafens? Urteilt man nach dem Fundort und seiner Umgebung, stammte das Nashorn aus der Römerzeit. Zu vermuten wäre dann, dass es sich um ein Tier handelte, das im Zirkus auftrat. Denn auch nördlich der Alpen wollten die Römer auf Unterhaltung wie im Colosseum in Rom nicht verzichten.
Doch die C14-Kohlenstoffanalyse hat diese Theorie zweifelsfrei widerlegt. Das Tier ist sage und schreibe 37.000 Jahre alt. Es handelt sich damit um ein eiszeitliches Wollhaarnashorn, befindet Berke. Die Theorie des Paläozoologen zum Fund: Die Römer müssen den Knochen ebenfalls irgendwo gefunden haben. Einkerbungen an der Oberfläche deuten darauf hin, dass der Knochen in römischer Zeit als Hackklotz benutzt wurde. Und wohl irgendwann in den Hafen geschmissen wurde.