BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Süßer Wein aus Ungarn

Als Frau aus dem Osten werde ich oft gefragt, warum meine Brüder und Schwestern dort so gerne Menschen angreifen, die nicht so blass sind wie sie selbst. Die Frage verdient eine faire Antwort …

„Mensch, Barbara, du bist doch aus dem Osten, erklär du jetzt mal, wieso deine Brüder und Schwestern Menschen angreifen, die nicht so blass sind wie sie selbst oder sonst wie anders.“ Fragen sind dazu da, beantwortet zu werden. „Klar“, sage ich dann, „mach ich“ und zeige in der Regel einen Vogel.

Westler sind manchmal komisch. Zumindest die, die glauben, dass jede verständliche Frage auch eine verständliche Antwort haben muss. Soll ich sagen, naja, das müsst ihr verstehen, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, viel Frust, viel Bier und Angst vor dem Unbekannten, da passiert es schon mal, dass Fremde eine aufs Maul kriegen? Na also.

Der Horizont zu Ostzeiten war bekanntermaßen sehr beschränkt. Der Blick über den eigenen Tellerrand gehörte nicht zur Erziehung von sozialistischen Persönlichkeiten, obwohl es, Mangel hin, Mangel her, an Ausländern nicht fehlte.

Da war zum einen der große Bruder. Doch die sowjetischen Soldaten lebten abgeschirmt in ihren Kasernen. Die viel beschworene deutsch-sowjetische Freundschaft fand in erster Linie auf dem Papier statt, und das ist bekanntermaßen geduldig. Zum anderen waren da die vielen Studenten aus Süd- und Mittelamerika, Äthiopien, Afghanistan und einer Reihe anderer ferner Länder. Sie waren zum Studieren in den kleinen Arbeiter-und-Bauern-Staat gekommen, dessen Genossen ihre Befreiungsorganisationen und Unabhängigkeitsbewegungen aufs Heftigste ideologisch unterstützten. Nur gehörten persönliche Bande nicht zu diesem Weltbild. Und dann waren da noch die so genannten Vertragsarbeiter aus Kuba, Vietnam, Angola und Mosambik. Die wurden als Zeichen der Völkerfreundschaft angeworben. Einer Völkerfreundschaft, die sich auf die Werkbank und ihre eigenen Internate konzentrierte.

Als ich an der Karl-Marx-Universität Leipzig mit meinem Spanisch-Studium anfing, mussten wir zu einer Art Antrittsvorlesung, bei der irgendeine hochrangige Persönlichkeit dieser Bildungseinrichtung einen Vortrag hielt. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass uns unmissverständlich klar gemacht wurde, dass Beziehungen zu Studenten aus nichtsozialistischen Ländern nicht erlaubt seien. „Auch wenn Sie sich in einer dunklen Ecke einer Diskothek verstecken, es nützt Ihnen nichts.“ So in der Art.

Ich habe nicht protestiert. Aus drei Gründen: Ich war neu in dem Laden. Ich hatte keine Lust, mit einem Bekloppten zu diskutieren. Ich wusste, ich würde die Weisung ohnehin ignorieren.

Leipzig kam mir damals sehr öde vor. Oft saß ich mit Studenten aus Lateinamerika, Palästina und Äthiopien in der Mensa, einer Kneipe oder bei mir in der Wohnung. An einem lauen Sommerabend trank ich mit zwei Studenten aus El Salvador und Venezuela ziemlich viel ziemlich süßen ungarischen Wein. Wir klagten über die Eintönigkeit, spotteten über den Ausdruck „Leipziger Allerlei“, ersetzten ihn durch „Leipziger Einerlei“ und überlegten, wie wir das bevorstehende Wochenende verbringen könnten. Zu fortgeschrittener Stunde hatte ich eine Idee: „He, lasst uns zu meinen Eltern aufs Dorf fahren!“ Die beiden waren begeistert. Wir stießen ein letztes Mal an und verabredeten uns für Samstagfrüh auf dem Leipziger Hauptbahnhof.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich verdammte Kopfschmerzen von dem Wein. Kaum lichtete sich der Nebel in meinem Hirn, fiel mir die Einladung ein, die ich wenige Stunden zuvor ausgesprochen hatte. Sofort stand ich kerzengerade im Bett. Fieberhaft überlegte ich, wie ich meinen Eltern die Nachricht beibringen sollte. Ich war so doof gewesen, ihnen von der Weisung von oben zu erzählen, und wusste, dass sie nicht wollten, dass ich Ärger an der Uni bekam. Weil ich aber keinen Ärger mit meinen Freunden haben wollte, rief ich zu Hause an. Mein Vater war entsetzt.

„Bist du verrückt?“, fragte er. „Nein“, antwortete ich, „wieso?“

„Das ist doch verboten!“

„Na und?“, fragte ich zurück.

„Willst du deinen Studienplatz aufs Spiel setzen?“

Ich antwortete nicht. „Wir kommen am Samstag 11.48 Uhr an“, sagte ich und legte auf.

Als wir bei meinen Eltern vor der Haustür standen, empfing uns ein herrlicher Bratenduft. Meine Eltern hatten sich schick gemacht, sie waren äußerst aufmerksame Gastgeber und ziemlich schnell verloren sie ihre Angst. Ich gebe zu, der Besuch grenzte an Nötigung. Doch manchmal muss man hart durchgreifen.

Fragen zum Allerlei? kolumne@taz.de Freitag: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE