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Archiv-Artikel

„Genosse, schämst du dich nicht?“

betr.: „Unter Sachkennern der Szene“

1,01 Euro für die Ersatzteile von Fahrrädern. Das ist doch nun wirklich genug. Wer gibt als Normalsterblicher, geschweige denn als Staatssekretär, jeden Monat 1,01 Euro für Fahrradersatzteile aus? Und das 12 Mal im Jahr. Na, ich bitte sie um alles in der Welt, so schlecht kann es doch den Hartz-IV-Empfängern gar nicht gehen, wenn sie jeden Monat Geld für Fahrradersatzteile ausgeben können.

Franz Thönnes war Gewerkschaftssekretär, ich auch. Franz T. kommt aus Schleswig-Holstein, ich auch. Franz T. ist in der SPD, ich nicht mehr. Franz T. gehört zu den Genossen, über die bereits 1910 Robert Michels in seinem „ehernem Oligarchiegesetz“ geschrieben hat: „Je besser er in den gottverfluchten kasuistischen Spitzfindigkeiten der Unfall und Invalidenversicherung Bescheid wusste, mit je mehr Bienenfleiß er sich in die Spezialfragen der Fabrikinspektion und des Gewerbegerichts, des Rollmarkensystems in den Konsumvereinsläden und der Gasverbrauchskontrolle bei der kommunalen Gasbeleuchtung einarbeitete, desto mehr hatte er Mühe, die Arbeiterbewegung auch nur im engsten Wortsinn im Auge zu behalten; desto weniger Zeit, Lust und Sinn blieben ihm für die großen geschichtsphilosophischen Zusammenhänge, desto falscher wurde sein Urteil über internationale Fragen und desto mehr wurde er geneigt, jeden für einen ‚Unberufenen‘ zu erklären, der nicht von technischen, sondern von höheren ‚Gesichtspunkten‘ ausgeht …“

Franz T. gehört zu den Oligarchen. Er und all die anderen, die vergessen haben, was es heißt, von 345 Euro im Monat leben zu müssen. Von denen wird man vergebens erwarten können, den Begriff „Armut“ zu erwähnen. Das kommt in ihrer Welt nicht vor.

Theobald Tiger (Kurt Tucholsky) schrieb 1923 in seinem Gedicht „An einen Bonzen“: „Hörst du nicht manchmal in der Nacht eine leise Stimme, die mahnend spricht: ‚Genosse, schämst du dich nicht?‘“

REINHARD GOTTORF, Reinheim