: Wie Willkür ein Leben zerstört
VON BETTINA GAUS
Bis vor einigen Wochen hätte man Kassim Said Mzee in jeder Talkshow als rühmliches Beispiel für die gelungene Integration eines Ausländers vorstellen können: Perfekte Deutschkenntnisse, geordnete wirtschaftliche Verhältnisse, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und die schriftliche Zusicherung der baldigen Einbürgerung in die Bundesrepublik. Mit deutscher Ehefrau und drei Kindern lebte er in einer Vier-Zimmer-Wohnung im bürgerlichen Berliner Stadtteil Charlottenburg. Dann wollte der Elektroingenieur eine neue Arbeitsstelle antreten und vorher noch ein bisschen Sonne tanken. Dabei kamen ihm seine Reisedokumente abhanden. Nun droht das Gebäude seines Lebens in Trümmer zu fallen.
Seit dem 31. März sitzt der 35-Jährige ohne Papiere in Marokko fest. Sein Visum für das nordafrikanische Land ist längst abgelaufen. Seine tansanische Staatsbürgerschaft musste er aufgeben, um die deutsche erhalten zu können. Deshalb ist er jetzt staatenlos. Die Einbürgerungsurkunde liegt nämlich in Berlin und muss von Kassim Said Mzee persönlich abgeholt werden. Da kommt er aber nicht hin, solange die deutsche Botschaft in Rabat ihm keine neuen Reisedokumente ausstellt. Ein Reiseausweis für Ausländer darf im Ausland lediglich mit Zustimmung des Bundesinnenministeriums ausgefertigt werden. Und dieses Ministerium hat bislang nicht zugestimmt. Es prüft. Seit Wochen.
Mit welcher Fluglinie der Rückflug geplant gewesen sei? Bei welchem Reisebüro der Aufenthalt gebucht wurde? Wer die Leute seien, bei denen Kassim Said Mzee in Marokko wohnt? Und wie er denn von einem marokkanischen Mobiltelefon aus die Botschaft habe anrufen können, wenn er sich angeblich zum ersten Mal und als Tourist in Marokko aufhält?
Weil er sich gleich nach seiner Ankunft eine Telefonkarte gekauft habe, um möglichst billig mit seiner Familie in Deutschland sprechen zu können. Mit der Lufthansa sei er geflogen, und die Reise sei online gebucht worden. Seine Gastgeber kenne er über einen marokkanischen Studienfreund, der in Deutschland lebe, erklärt Kassim Said Mzee.
Einbürgerung gestoppt
Das Innenministerium ist sehr wissensdurstig. „Zur weiteren Bearbeitung des Antrags“ bittet das Innenministerium, „dass Ihr Mandant nochmals ausführlich Stellung nimmt zu dem Aufenthaltsgrund in Marokko“, schreibt die Deutsche Botschaft am 9. Mai an die Rechtsanwältin, die Mzee inzwischen beauftragt hat. Und fügt vorsorglich hinzu: „Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Verzögerungen hinsichtlich der Zustimmung des Bundesministeriums des Innern zur Ausstellung eines Reiseausweises allein in der Verantwortung Ihres Mandanten liegen.“
Diese Verzögerungen hatten bereits jetzt dramatische Folgen. Der neue Arbeitgeber hat dem Elektroingenieur Anfang Mai gekündigt – wenig erstaunlich, da sein neuer Angestellter keinen einzigen Tag in der Firma gearbeitet hat. Das Bezirksamt habe ihm mitgeteilt, dass der Prozess der Einbürgerung vorläufig gestoppt worden sei, sagt Mzee. Selbst wenn er wieder in Berlin sei, könne ihm die Urkunde gegenwärtig nicht übergeben werden. Unterdessen weiß Ehefrau Maha nicht, wo sie das Geld für Lebensunterhalt und Miete hernehmen soll. Die Familie ist eingesprungen, aber das ist natürlich keine Dauerlösung.
„Ich bemühe mich jetzt um Arbeit,“ sagt die 28-jährige Ärztin. „Das klappt nur bekanntlich nicht von einem Tag auf den anderen.“ Und eigentlich hatten sie und ihr Mann sich ganz bewusst dafür entschieden, dass sie vorläufig zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern sollte. Die brauchen sie jetzt besonders – die Ereignisse sind nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen. Tieftraurig sei die Älteste und völlig verunsichert, erzählt die Mutter. Das Kind ist acht Jahre alt. Die zweieinhalbjährige Schwester hatte gerade gelernt, aufs Töpfchen zu gehen. „Das ist vorbei. Jetzt sind wir wieder bei Windeln, und sie hat auch wieder angefangen, den Schnuller zu benutzen.“ Nur dem Sohn ist nichts anzumerken. Aber der ist ja auch erst elf Monate alt.
Wie lange Kassim Said Mzee noch auf seine Papiere warten muss, lässt sich nicht absehen. Mit einer Bearbeitungszeit von zwei bis drei Monaten sei zu rechnen, habe ihr der zuständige Sachbearbeiter im Innenministerium gesagt, berichtet seine Frau. Man müsse jetzt vieles prüfen und mit verschiedenen Behörden sprechen. „Es werden ständig neue Fragen nachgeschoben. Vorgestern wollten sie im Konsulat plötzlich die Telefonnummer vom marokkanischen Studienfreund meines Mannes in Deutschland. Davon war bisher überhaupt noch nie die Rede.“
Dafür von vielem anderen. Die Niederlassungserlaubnis ihres Mannes in Deutschland hat die Ehefrau zur Botschaft nach Marokko gefaxt, den Arbeitsvertrag, die Einbürgerungszusage, den Antrag auf Ausbürgerung aus Tansania und sogar die Geburtsurkunden der Kinder. Genützt hat das alles bisher gar nichts.
Gibt es vielleicht Gründe, die das Innenministerium veranlassen, den Fall besonders eingehend zu prüfen? Verdächtigen die Beamten den 35-Jährigen einer Straftat? Bestehen Hinweise auf terroristische Aktivitäten? Auf Schleusergeschäfte? Sollte das so sein, dann behalten es die Verantwortlichen für sich. Fragen der taz blieben mit Hinweis auf Datenschutzbestimmungen unbeantwortet. Die Betroffenen tappen ebenfalls im Dunkeln.
Die Ehefrau hatte sich auch ans Auswärtige Amt gewandt. Einmal habe man ihr dort angedeutet, dass ihr Mann ja vielleicht seine Papiere verkauft habe, erzählt sie. Im offiziellen Schriftverkehr findet sich davon keine Silbe.
Auch andere Fragen, die im Gespräch immer wieder gestellt werden, werden nicht schriftlich niedergelegt: Warum er denn ohne seine Familie verreist sei? Noch dazu in ein Land, das er angeblich gar nicht kannte? Die Stimme seiner Frau schwankt zwischen Lachen und Verzweiflung, wenn sie erklärt, dass die älteste Tochter schließlich zur Schule habe gehen müssen und keine Ferien gehabt habe. Und dass ihr Mann einfach nur den Wunsch gehabt habe, ein paar Tage in schöner Umgebung auszuspannen, bevor er eine neue Arbeitsstelle antreten sollte. Gesetzeswidrig ist das nicht. Es ist nicht verboten, ohne Familie zu verreisen. Nicht einmal in ein unbekanntes Land. Die Gründe dafür gehen Behörden nichts an. Es ist anzunehmen, dass auch Beamte das wissen – und dass sie sich deshalb hüten, solche Fragen schriftlich zu stellen.
Kassim Said Mzee und seine Frau haben Protokoll geführt über die Telefonate, Behördengänge und alle ihre sonstigen Bemühungen um ein neues Reisedokument. Wer die Aufzeichnungen liest, kann sich eines Gefühls der Beklemmung nur schwer erwehren. Es ist zu spüren, dass das sprachgewandte Akademikerpaar sich auskennt hierzulande, dass es mit Institutionen und Instanzenwegen umzugehen weiß – und dass sich beide nicht vorstellen konnten, jemals zu Opfern von Behördenwillkür zu werden.
Vielleicht sind sie ja auch gar keine Opfer von Willkür. Vielleicht hat das Innenministerium tatsächlich gute Gründe für sein Vorgehen. Das Problem ist nur: Man weiß es eben nicht. Kassim Said Mzee weiß es nicht, seine Frau weiß es nicht, die Anwältin weiß es nicht. Gegen Vorwürfe, die man nicht kennt, kann man sich nicht verteidigen.
Die Erinnerungsprotokolle sprechen ohnehin eine andere Sprache. Sie sind ein Dokument der Hilflosigkeit. Von Pontius zu Pilatus sind sie gelaufen: Botschaft, Konsulat, Auswärtiges Amt, Ausländerbehörde, Innenministerium. Auf viele hilfsbereite und auf viele weniger hilfsbereite Leute sind sie gestoßen. Wenn man den Aufzeichnungen Glauben schenken will, dann hatten sie es auch gelegentlich mit Beamten zu tun, die offen feindselig waren.
Stimmt das? Oder haben sich Kassim Said Mzee und seine Frau einfach manchmal im Ton vergriffen? Das wird sich nicht mehr klären lassen. Aber sollte es so gewesen sein: Wäre das ein hinreichender Grund, um die Ausstellung von Dokumenten so lange hinauszuzögern, dass die Existenz einer Familie zerstört wird?
Am 21. April – ihr Mann saß seit mittlerweile drei Wochen ohne Dokumente in Marokko – rief die Frau von Kassim Said Mzee bei der Notrufnummer des Auswärtigen Amtes an. Auszug aus dem Gedächtnisprotokoll: Der Beamte „ist nicht nur nicht kooperativ, er ist beleidigend. Dies sei eine Notfallnummer und kein Beschwerdetelefon, wenn ich Probleme mit Kollegen hätte, wäre dies mein Problem, er sitze in einem Krisenreaktionszentrum, ich solle die Leitung bitte für Notfälle freihalten. Ich sage: Dies sei ein Notfall. Er sagt: für ihn nicht.“
Für ihn nicht. Da kann man wohl nichts machen. Kassim Said Mzee sagt, er wisse nicht, wie ihm das Reisedokument der Ausländerbehörde abhanden gekommen sei. Vielleicht sei es gestohlen worden, vielleicht habe er es verloren. Er wisse es einfach nicht. Ja, so ist das meistens, wenn etwas plötzlich nicht mehr da ist, was man ganz dringend braucht.