: 700 Meilen im Fischerboot
AUS TENERIFFAREINER WANDLER
Die spanischen Behörden haben dazugelernt. Anders als im vergangenen Herbst, als tausende von Afrikanern die Grenzzäune der beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla überwanden, gibt es jetzt keine Lebensgeschichten von denen, die die gefährliche Reise von Afrika auf die Kanarischen Inseln geschafft haben.
Die Schwarzafrikaner, die zu tausenden mit lang gezogenen Fischerbooten, den Cayucos, auf den europäischen Außenposten mitten im Atlantik gelangen, sind nur Nummern. „134 in zwei Cayucos“ – „645 in nur 24 Stunden“ – „1.300 seit dem Wochenende“. Waren die Flüchtlinge in Melilla dank einer liberalen Politik überall in der Stadt anzutreffen und konnten frei reden, scheinen sie in Teneriffa, der Insel, auf der jetzt die meisten ankommen, nicht zu existieren.
Untergebracht sind sie in Internierungslagern. Eines davon, La Hoya Fría, befindet sich unweit der Inselhauptstadt Santa Cruz neben einer Militärkaserne. Über vier Meter hohe, mit Scheinwerfern und Lautsprecher versehene Betonmauern umgeben das Gelände. Durch die Streben des blauen Metalltors sind graue Gebäude mit kleinen Fenstern zu sehen. Kein Beamter, kein Flüchtling weit und breit. Nur am Eingang, einem Betonturm mit Panzerglasfenster, sitzt jemand. „Einen Verantwortlichen wollen Sie sprechen?“ Er verschwindet. Nach zehn Minuten gibt er durch das Sprechloch eine Telefonnummer beim Zentralkommissariat in Santa Cruz.
Die meisten Gestrandeten kommen im Hafen der Feriensiedlung Los Cristianos im Süden der Insel an. Hier an die Mole, von wo aus Jahr für Jahr 1,8 Millionen Touristen die Fähre zur Nachbarinsel Gomera nehmen, schleppen Seerettungsdienst und Polizei die Cayucos. Wenn eines der überfüllten Flüchtlingsboote ankommt, spielt sich immer die gleiche Szene ab. Die Polizei sperrt den Zugang zur Mole. Es gibt kein Durchkommen. Gespräche mit den Flüchtlingen werden nicht erlaubt. Das Personal der Seerettung trägt weiße Overalls, Brillen und Atemschutzmasken. Zwei mit Gummihandschuhen ausgerüstete Polizisten packen die Flüchtlinge an den Oberarmen und helfen ihnen beim Sprung hinüber an Land. Die meisten von ihnen lächeln. Sie haben es geschafft. Sie sind in Europa.
Unter den Augen der schaulustigen Touristen, die am Ende der Mole auf der Aussichtsterrasse des Fährterminals zusammengeströmt sind, geht es dann in eines der drei Zelte des Roten Kreuzes zur Erstuntersuchung und dann zum Kommissariat der Nationalpolizei in Las Américas nur wenige Kilometer weiter, wo sie einem Richter vorgeführt werden.
Das Kommissariat befindet sich am Rande der Urlaubersiedlungen Las Terrazas, Hotel Bitácora oder Hotel Vulcano, wo die Bettenburgen für sonnenhungrige Nordeuropäer stehen. Nichts deutet hier auf die Flüchtlingssituation hin. Um die Mittagszeit fahren plötzlich zwei Reisebusse vor. Beamte stellen sich im Spalier auf, ein Gittertor öffnet sich. Dahinter stehen die Flüchtlinge. Verstörte, ängstliche Gesichter. Jeder hat einen Aufkleber mit einer Nummer auf der Brust. „Hopp, hopp!“, werden die Afrikaner in die Busse gescheucht. Ein Mannschaftswagen vorneweg, ein anderer hinterher, verschwinden sie zwischen Touristenbussen und Mietwagen auf der Autobahn. „Keine Auskunft“, raunt ein Beamter auf die Frage, wohin sie gebracht werden. Später wird eine Telefonnummer in Santa Cruz mitgeteilt.
Unter dieser gibt es zwar auch keine Besuchsgenehmigung, der Pressebeamte gibt jedoch immerhin Zahlen über die Flüchtlinge bekannt. Auch wenn er zu dieser Auskunft nicht berechtigt sei. Im Betonbunker von Hoya Fría sind 300 interniert. Im Militärcamp Las Raices seien es 780 und in Las Américas über 100.
„Die Lager sind restlos überfüllt“, sagt Lucambré Diouf, der Vorsitzende des Forums für Immigration, einem Beratergremium der Inselregierung. In ihm sind Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Immigrantenvereinigungen vertreten. Hoya Fría sei nur für 238 Insassen ausgelegt. „Wir vom Forum haben keinen Zugang zu den Flüchtlingen“, erklärt Diouf, ein Senegalese, der seit knapp 14 Jahren in Teneriffa lebt. Er ist auf Nachrichten aus seiner Heimat angewiesen, um zu rekonstruieren, wie die Überfahrten ablaufen. „Die Vermutung, dass Mutterschiffe die Cayucos auf hoher See aussetzen, um so die Überfahrt zu verkürzen, ist ein Gerücht“, erklärt er. Die Flüchtlinge seien tatsächlich sieben bis neun Tage unterwegs. Hin und wieder legten sie auf ihrer über 1.200 Kilometer langen Reise an unzugänglichen Buchten an.
Ein Besuch in Buzanada, einem Ort im Landesinneren, 15 Kilometer von Los Cristianos entfernt, macht die Strapazen, in einem Cayuco zu reisen, deutlich. Auf dem Gelände einer Baufirma lagern 34 Boote. Sie sind zum Teil über 20 Meter lang. In der Mitte ist der Innenraum bis zu 1,50 Meter tief. Rund 100 Personen finden hier Platz. Alle Boote haben zwei Motoren. Einer im ständigen Einsatz, ein zweiter, fabrikneu und in Ölpapier verpackt, für den Notfall. Überall liegen Kleider, Schuhe und Schwimmwesten herum, die die Passagiere trugen. Der Innenraum war mit einer Plane geschützt. Leere Reissäcke zeugen von der spärlichen Kost auf der Überfahrt. Zum Kochen dienten Campinggasflaschen und Autofelgen, die als Holzkohlegrill dienten. Mehrere Holzboote sind auseinander gebrochen, als sie aus dem Wasser gehoben wurden. Die Rümpfe sind mit bunten Mustern bemalt. „Ya Salame“ heißt eines, das andere „African Star“.
„Oft sind unter den Immigranten Fischer aus dem Senegal“, erzählt Diouf. Sie hätten genug Erfahrung, um mit Hilfe eines GPS die Route auf die Kanaren zu finden. 1.200 Euro koste die Reise. Aus Mauretanien, dessen Küste mittlerweile von einheimischen Soldaten und Spaniern kontrolliert wird, ist es nur halb so teuer.
Diouf macht sich Sorgen um die Rechte der Flüchtlinge. „Viele haben sicher Asylgründe, werden aber unzureichend informiert“, befürchtet er. Die meisten sitzen 40 Tage im Lager. Wenn sie dann nicht in ihre Heimat abgeschoben werden können, weil unklar ist, woher sie stammen, oder weil es kein Rücknahmeabkommen gibt, werden sie auf das spanische Festland gebracht und dort freigelassen. „Das ist der soziale Tod“, weiß Diouf. Ohne Papiere kein Job. „Sie enden in der Kriminalität, Prostitution oder im Drogenhandel.“
Das Forum verlangt deshalb Einwanderungsabkommen mit den Herkunftsländern. „In Spanien und auch hier auf den Inseln besteht Bedarf an Einwanderung“, sagt Diouf. Doch kennt er auch die Statistiken. „Die besagen: Das größte Cayuco ist das Flugzeug.“ Denn die meisten Einwanderer kommen mit einem Touristenvisum aus Lateinamerika und Osteuropa. Viele von ihnen finden Arbeit, das zeigt die Regularisierung von Einwanderern ohne Papiere im vergangenen Jahr. „Doch für Afrikaner scheint es keinen Platz zu geben“, bedauert Diouf.