In der Falle der Aufklärung

Am Sonntag geht das Filmfestival von Cannes zu Ende: Von einigen Ausnahmen abgesehen litt der Wettbewerb unter einer Übermacht der politischen Themenfilme. Deren Furor lief meist ins Leere

Nicht der Mangel an Information verhindert eine Änderung der Zustände. Wissen ist schlicht folgenlos

VON CRISTINA NORD

Die Welt ist in einem schlechten Zustand. Es herrscht Krieg, es herrscht Terror, es herrscht Armut. Korruption und Medienmonopole bedrohen die Demokratie, Fäkalien im Fast Food setzen unserer Gesundheit zu, der Niedergang die Stahlindustrie treibt die einstigen Prinzen des Proletariats in die Verzweiflung, und die Familie ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

Zu einem solch kulturpessimistischen Befund muss kommen, wer sich zu Herzen nimmt, was der Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals von Cannes an Elendspanoramen ausgebreitet hat. Morgen Abend wird im Grand Théâtre Lumière die Goldene Palme zum 59. Mal verliehen, und es kann gut sein, dass sie an einen der vielen Filme im offiziellen Programm geht, die sich – mal mit dezidiert politischer Zielsetzung, mal als allgemein gehaltene Aussage über die condition humaine – den Verwerfungen der Gegenwart und der Vergangenheit widmen.

Um einige Beispiele zu nennen: Der belgische Filmemacher Lucas Belvaux skizziert in „La raison du plus faible“ („Das Recht des Schwächeren“), welche Folgen die Deindustrialisierung in einer mittelgroßen belgischen Stadt hat. Der französische Regiesser Bruno Dumont seziert in „Flandres“ ein ländliches Antiidyll, bevor er seine Protagonisten, grobschlächtige Bauernburschen, als Soldaten in ein fernes Land ziehen lässt, wo weder sie noch ihre Gegner mit den Genfer Konventionen vertraut sind.

Der Mexikaner Alejandro González Iñárritu verwebt drei Erzählstränge, die allesamt von Gefahr und höchster Not in der globalisierten Gegenwart handeln. Der US-Amerikaner Richard Linklater entwirft am Beispiel der Fleisch- und Fast-Food-Industrie ein tristes Bild der Konsumkultur in seinem Land. In „Fast Food Nation“ versetzt der avancierte Kapitalismus die Menschen in einen Stupor, den sie nicht zu überwinden in der Lage sind. Und auch der französische Filmemacher Rachid Bouchareb, der als Produzent an Dumonts Film mitgewirkt hat, hat mit „Indigènes“ einen Kriegsfilm gedreht. Es erzählt von Soldaten aus dem Maghreb, die 1943 für Frankreich, die nie mit eigenen Füßen betretene patrie, gegen die Deutschen kämpfen. Ein wichtiges Sujet – sowohl für Frankreich als auch für Nordafrika. Letzteres versichert mir M., ein von Boucharebs Film sichtlich berührter Kollege aus Tunis. Doch auch er sagt, dass die Relevanz des Sujets keine Garantie für die Qualität eines Filmes sei.

Anders als im letzten Jahr, als Filme von David Cronenberg, Gus Van Sant, Hou Hsiao-Hsien, Jim Jarmusch, Michael Haneke, den Brüdern Dardenne und anderen nicht minder verdienten Regisseuren für ein ungebrochen hohes Niveau im offiziellen Programm sorgten, bewies Thierry Frémaux, als Direktor des Festivals für die Filmauswahl verantwortlich, diesmal keine glückliche Hand. Ausgerechnet Cannes, das A-Festival, das sich entschieden und bisweilen arrogant als Schutzraum der Filmkunst in Szene setzt, gewährt dem Themenfilm eine Plattform. Dabei gilt auch in diesen Tagen an der Croisette die alte Einsicht, dass nur der, der einem politischen Sujet mit einer eigenständigen künstlerischen Position begegnet, zu überzeugen vermag. Oder wie Nanni Moretti es während der Pressekonferenz zu seinem Film „Il caimano“ formulierte: „Engagement im Kino muss damit einhergehen, dass man gute Filme dreht.“

Die Qualität freilich fehlt vielen Wettbewerbsfilmen. Belvaux verzettelt sich zwischen ungelenker Sozialstudie und Krimiplot. González Iñárritu streut das Puzzle seiner drei Erzählstränge zwar so versiert aus, dass man ihm gerne dabei zusieht, wie er nach und nach die einzelnen Teile zusammensetzt. Doch je länger man darüber nachdenkt, wie unbarmherzig der Regisseur die Figuren in ausweglose Situationen treibt, um sie am Ende – einem gütigen Gott gleich – daraus zu erlösen, umso kalkulierter wirkt „Babel“.

Und Dumont führt uns die Schlechtigkeit der Welt vor, als müsste er uns mit Macht die Augen aufreißen. Was aber, wenn unsere Augen schon weit geöffnet sind? So weit, dass ihr Blickfeld nicht nur den fiesen Sex, das fiese Töten und die archaischen Geschlechterbilder in „Flandres“ umfasst, sondern auch den Regisseur, der sich dazu aufschwingt, uns diese Trostlosigkeit als Wahrheit über das Wesen des Menschen zu verkaufen? Wie viel Anmaßung sehen sie dann, wie viel selbstgerechte Kraftmeierei?

Zum Glück gab es auch in diesem Wettbewerb Filme, die sich den Miseren unserer Zeit auf überzeugende Weise näherten. Wie etwa Pedro Almodóvar in „Volver“ von der beschädigten Existenz seiner Heldinnen erzählt, muss ihm erst einmal jemand nachmachen. Regisseure, die sich am Elend ihrer Protagonisten weiden, können bei Almodóvar lernen, was es bedeutet, den Figuren mit Empathie zu begegnen. Sie können lernen, wie man Solidarität in Szene setzt, ohne Süßstoff beizumischen.

Ähnliches gilt für Aki Kaurismäki: Dessen neuer Film „Laitakaupungin valot“ („Lichter der Vorstadt“) mag zwar dem Oeuvre des finnischen Filmemachers nichts substanziell Neues hinzuzufügen. Doch wie Kaurismäki die Tristesse seines Protagonisten Koistinen (Janne Hyytiäinen), eines Wachschutzmannes am Rande von Helsinki, in ziegelroten und kobaltblauen Farben ausmalt, zählt zu den Höhepunkten des diesjährigen Wettbewerbs. Koistinen ist der Inbegriff des kleinen Mannes, gutmütig, naiv, eine treue Seele. Abgrundtief böse Menschen bringen ihn in solche Bedrängnis, dass man den Eindruck gewinnt, es mit archetypischen Kinokonstellationen zu tun zu haben: „Lichter der Vorstadt“ arbeitet unverkennbar mit den Figurenarrangements des Stummfilms und denen des Neorealismus, mit dem Typus der treuherzigen, ausgebeuteten, zur Gegenwehr unfähigen Figur. Zugleich entwickelt der Film den für Kaurismäki charakteristischen, großartigen Sinn für Lakonie. Als Koistinen aus dem Gefängnis entlassen wird und sich eine Freundin erkundigt, wie es dort war, lautet die Antwort: „Man konnte nicht rausgehen. Die Türen waren immer verschlossen.“

„Il Caimano“, Morettis Film über den Versuch, einen Film über Berlusconi zu drehen, lässt die Innovation zwar vermissen, gleicht diesen Mangel aber mit einigen sehr pointiert gesetzten Szenen aus. Frappierend etwa ist das Gespräch zwischen einem RAI-Produzenten und dem Protagonisten Bruno Bonomo (Silvio Orlando), dem abgehalfterten B-Film-Produzenten, der den Plan hegt, besagten Film über Berlusconi zu drehen. Der Mann vom staatlichen Fernsehen sagt sinngemäß: „Korruption, Schwarzgeld, Medienmonopol – was willst du, Bruno? Das wissen doch alle! Darüber will doch niemand einen Film sehen!“

Das ist eine luzide Szene, insofern sie uns ohne viel Aufhebens auf den schwarzen Grund der Mediendemokratie führt. Nicht der Mangel an Information und Wissen verhindert eine Änderung der Zustände, nein, die Existenz umfassender Informationen bleibt schlicht und einfach ohne Folgen. Über die Frage, was vor diesem Hintergrund noch zu tun übrig bleibt, um eine politische Misere wie die, die Berlusconi über Italien gebracht hat, zu beheben, grübelt man lange und ohne Ergebnis.

Es bleibt ein Film zu erwähnen, der während der Pressevorführung die Kritiker scharenweise aus der Salle Débussy strömen ließ: Pedro Costas „Juventude em marcha“ („Colossal Youth“). Er ist ein Solitär im diesjährigen Wettbewerbsprogramm, unzugänglich, schroff, abweisend, ohne jedes kommerzielle Potenzial. Die Videobilder sind glanzlos, aber umso klarer komponiert. Der Regisseur arbeitet mit Laiendarstellern, die schon an seinen vorangegangenen Filmen mitwirkten. Die Einstellungen sind lang, die Kamera bleibt mit Ausnahme weniger Szenen reglos.

Der Film begleitet Ventura, einen älteren Einwanderer von den Kapverdischen Inseln, bei seinen Wegen durch einen Slum und ein Neubauquartier am Rande von Lissabon. Der Slum wird abgerissen, die Bewohner werden umgesiedelt, was der Film jedoch nicht zeigt, sondern über die Erzählungen der Figuren einfängt. Mit großer Geduld hört Costa diesen Geschichten zu. Wenn etwa die einst heroinabhängige Vanda – sichtlich von der Methadoneinnahme gezeichnet – davon erzählt, wie sie ihre Tochter zur Welt brachte, dann weiß man genau, warum kein Schnitt das Mäandern ihrer Sätze unterbricht: Die Dauer der Einstellung ist das Einzige, was Vandas Schmerzen gerecht werden kann.

Dumont und González Iñárritu befreien ihre Figuren mit einem faulen Trick: einer Deus-ex-maquina-artigen Schlussvolte, die Erlösung verheißt. Costa hat das nicht nötig. Sein Antidot zu der Misere, in der die Figuren leben, ist der bedingungslose Glaube an ihre Würde. „Juventude em marcha“ ist Arte povera im besten Sinne, da der Film aus der Begrenztheit der Mittel eine überzeugende Strenge der Form gewinnt. Eine radikalere Position war in diesem Jahr in Cannes nicht auszumachen.