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Archiv-Artikel

Ein hochbegabter Frauenzerstörer

Trotz täglicher Podcast-Vorbereitung viele verschenkte Möglichkeiten:Luk Perceval inszeniert Tschechows „Platonow“ an der Schaubühne

VON CHRISTIANE KÜHL

In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als das Radio ein wahnwitzig neues Medium war, wurde der junge Bertolt Brecht angesichts der kommunikativen Möglichkeiten des Apparats höchstgradig euphorisch: Aus Konsumenten, so seine Vision, würden bald Produzenten werden. Doch anders als die Möglichkeiten waren die Resultate schmerzhaft ernüchternd. Was sich Brecht in etwa so erklärte, dass Künstler stets allzu bereitwillig mit und für den heißesten Scheiß produzierten – sei es ein neues Theater, ein Megafon oder das Radio –, egal ob sich in diesen Formaten das, was sie sagen wollen, sagen lässt, und im Übrigen auch völlig unabhängig davon, ob sie überhaupt etwas zu sagen haben. „Denn das Metier des Künstlers besteht darin, etwas zu finden, wodurch es hinterher entschuldigt werden kann, dass man Saal und Megafon unüberlegterweise gemacht hatte.“ Eine „ungesunde Produktion“ nannte Brecht das.

Dass weder 80 Jahre Praxis noch die sprunghafte Zunahme der „Produzenten“ durch die Digitalisierung des Radios an dieser Situation etwas geändert haben, ist vielerorts offenkundig. Auch an der Schaubühne. Die rühmt sich, als „erstes Theater in Deutschland“ eine Premiere mit täglichen Podcasts vorbereitet zu haben, die über die Homepage runtergeladen werden können. Wahnsinn!

Hören wir mal rein, was da am wichtigsten Tag des Prozesses, nämlich der Premiere selbst, kommuniziert wird: „Ja, hier im Café Schaubühne wird ja auch die Premierenfeier organisiert. Was gibt’s da für euch alles vorzubereiten? – Na, also wir müssen auf jeden Fall darauf achten, dass genug Getränke da sind, sprich also auf jeden Fall Bier, Weine, Rotwein, Weißwein, Prosecco und Mixgetränke halt.“

Irre! Hausregisseur und Podcast-Initiator Luk Perceval erklärt in der Pressemitteilung: „In einer Zeit, in der Theater mehr und mehr marginalisiert wird, ist es besonders wichtig für ein Theater, dass es sich deutlich als Freiraum der Gedanken profiliert.“ So modern ist das Theater in seiner Marginalisierung, dass es statt eines Programmhefts eine DVD mit dem Director’s Cut der Proben zu kaufen gibt, plus vielen Extras natürlich. Bei der Premiere gab es dazu Wodka und Kartoffeln für alle von Mädchen in weißroten Overalls, eine Sponsoring-Aktion von Smirnoff. Was geradewegs zum Thema leitet: „Platonow“ von Anton Tschechow.

„Platonow“ ist ein Stück über verschenkte Möglichkeiten. Der Titelheld, einst hochbegabter Student, fristet heute sein Leben als Dorflehrer. Die Frauen hatten ihn als zweiten Byron verehrt, er selbst sah sich als neuen Kolumbus. Geworden ist er Zyniker. Bei einer Reunion mit alten Bekannten auf dem Gut der verarmten Generalswitwe Anna Petrowna, bei dem Platonow zwischen offener Verachtung und Selbstmitleid, Aggression und Phlegma pendelt, wird offensichtlich, was ihn dazu brachte: seine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Vier Frauen wird er im Laufe weniger Stunden zerstören. Wobei Charakter- und Orientierungslosigkeit nicht sein Spezifikum, sondern Symptome der Zeit sind.

„Platonow“ ist Tschechows Erstling, geschrieben mit 20, den er selbst nie veröffentlichte. Vieles ist hier angelegt, was seine späteren Meisterwerke ausmacht – und vieles ist auch einfach zu viel. Es fehlt die Präzision, was bei einem langen Stück über die Langeweile eines heißen Sommers und einer sterbenden Epoche selbstredend tödlich sein kann. Stefan Pucher, der das Stück unter dem Titel „Die Vaterlosen“ jüngst erfolglos an der Volksbühne inszenierte, hat den Text fast ganz ignoriert und allein an der Atmosphäre des Scheiterns gefeilt. Luk Perceval hingegen nimmt das Drama an der Schaubühne sehr ernst und lässt vier Stunden spielen.

Auf fast leerer Bühne, von Annette Kurz etwas zu symbolistisch mit Gleisen, Schachspiel und Kerze dekoriert, agieren 15 Schauspieler, meist disparat im Raum verteilt, frontal zum Publikum. Perceval beherrscht solche Reduktion, das Ausbalancieren zwischen Identifikation und Präsentation. Doch hier geht sie nicht auf, denn im Zentrum des kühlen Konzepts müsste ein heißer Platonow stehen. Thomas Bading aber, der jeden Themenwechsel ohne Wechsel der Tonlage meistert, gelingt es nicht, im Arschloch den Unwiderstehlichen zu zeigen. So wirkt das Drama all der gebrochenen Herzen und mutwillig zerstörten Existenzen eher erstaunlich als tragisch.

Nächste Aufführungen: 3. bis 5. Juni