Vater der Falten

GESCHENK Das offizielle Aachen verehrt seinen Kaiser Karl, hält den großen Kriegsdespoten für den Gründer Europas und feiert 2014 dessen 1.200. Todestag. Viel bewegender aber ist Karls Hoftier: der weiße Elefant Abul Abbas. Den wird die Kulturszene der Stadt würdigen

■ Karl der Große alias Carolus Magnus alias Charlemagne (747–814), zum Kaiser gekrönt Weihnachten 800 in Rom, herrschte auf dem Höhepunkt seiner Macht von Aachen (lat. Aquis Granum) aus über ganz Mitteleuropa. Jedes Jahr verleiht Aachen medienwirksam den Karlspreis zur „Einigung Europas“.

■ Die Einigungstaten des Despoten waren grausige Gemetzel – gegen die Ungläubigen, zum Frommen der Kirche. Der Frankfurter Historiker Johannes Fried, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der anstehenden 1.200-Jahr-Feierlichkeiten: „Gewalt übte er auch nach innen aus. Karl und Europa sind in einem politischen Sinn erst im Dritten Reich zusammengebracht worden.“ In Karls Namen heute einen Europapreis zu vergeben hält Fried „für sehr problematisch und überholt“.

■ Das offizielle Aachen kümmert das nicht. Wenn in Aachen ein Sack Reis umfällt, glaubt man, würde das noch in China als Weltsensation gefeiert. Karls Odem dominiert auch das Tourismus-Business der Stadt. 2014, zum 1.200. Todesjahr, gibt es Ausstellungen und Festakte ohne Ende, mal mit Merkel, mal mit Gauck. (müll)

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Der 20. Juli 802 soll es gewesen sein, als er schweren Fußes erstmals Aachener Boden betrat: ein leibhaftiger Elefant, begleitet von einer Handvoll fremder Gestalten, beladen mit prächtigen Geschenken. Vielleicht hat er trompetet, als läge Jericho in der Voreifel. Ob die Menschen dabei an den Jüngsten Tag dachten, ob der Klang schauerlich war oder von wohltemperierter Süße – man weiß es nicht. Sicher ist nur eines: Solch ein Geschöpf hatte noch kein Mittelalter-„Öcher“ (Aachener Eigenbezeichnung, gesprochen Öscher) jemals leibhaftig gesehen, wohl nicht mal von seiner Existenz etwas geahnt. Staunen und Erschrecken müssen übermächtig gewesen sein.

Abul Abbas, so der Name des Elefanten, war ein Geschenk des mächtigen Kalifen Harun al-Raschid aus Bagdad an Karl den Großen (dessen Gesandte vorher Gunstbeweise ins Morgenland gebracht hatten). Und dieser Abul Abbas soll auch noch weiß gewesen sein.

Abul Abbas, übersetzt „Vater der Falten“, lebte fürderhin in einer Menagerie („Wildbann“) der Kaiserpfalz, einem ummauerten Wald- und Wiesengebiet. Er sorgte für Glanz, Macht und Ansehen. Der zeitgenössische Dichter Walahfrid Strabo nannte solch exotische Tierbestände „irdisches Abbild des himmlischen Paradieses“.

Bei der Ankunft war Abul Abbas gewiss erschöpft von seinem einjährigen Fußmarsch über mehr als 5.000 Kilometer. Aber unterwegs war es wenigstens nicht immer so kalt und regnerisch gewesen wie in diesem 400-Seelen-Nest. Der Elefant, allein, ohne Artgenossen und fern seines natürlichen Habitats, dürfte an Aachen gelitten haben wie ein Schwein. Ein paar Jahre später war er dann auch schon tot.

Heimweh und Kälte

Diese tragische Geschichte vom einsamen Rüsselriesen hat den Aachener Komponisten Florian Zintzen schon vor geraumer Zeit inspiriert. Passend zum Karlsjahr 2014 (siehe Kasten) wird sein „Requiem für einen weißen Elefanten“ nun erstmals im großen Stil der Öffentlichkeit präsentiert, gefördert von der Stadt Aachen. In dem Requiem ist der Dickhäuter bald nach seiner Ankunft erkrankt. Bei Hofe ringen Medicus, Heiler, Astrologin und der Herr Pastor um Ideen. Die Meldungen an Karl („Herr, der Elefant – er frisst nicht mehr!“) werden bang und bänger. Wie nur helfen!?

Das donnernde Werk (Text: Marion Simons-Olivier) hat dadaistische Züge, einigen feinen Witz und nette historische Verdrehungen. So singt der Medicus Aachens Stadthymne „Urbs Aquensis“ (mit verändertem deutsch-lateinischem Text), 400 Jahre bevor sie komponiert wurde. Es gibt Anleihen bei Goethes „Faust“, der Chor schmettert „Wer heilt, hat recht“. Am Ende sind die Gelehrten – „Ich spüre die Vergiftung seiner Seele“ – einig, dass Einsamkeit, Heimweh und Kälte den armen Elefanten gefrustet und gefrostet aufs Stroh zwingen.

„Den Kulturtransfer zu Karls Zeiten fand ich immer schon wahnsinnig faszinierend“, sagt Zintzen, 40, „und die Elefantengeschichte seit meiner Kindheit sowieso. Aber niemand hat mal darüber nachgedacht, wie es dem Tier hier wohl erging.“ Orchester und fast 200 SängerInnen werden das Ouevre im Mai und Juni 2014 auf die Bühne bringen.

Gleichzeitig wird auch das Stadttheater aktiv: Eine Art Elefanten-Wallfahrt soll Anfang Juni durch Aachen ziehen, „eine einzigartige Performance mit Tanz, Musik und jeder Menge Überraschungen“. In einer Realschule texten sie schon am Abul-Abbas-Rap. Vielleicht werden die Bäcker der Stadt einen Wettbewerb mit Riesenprinten in Elefantenform (mit viel weißem Zuckerguss) ausschreiben.

Die fränkische Propaganda nutzte das Prachtgeschöpf als Beleg dafür, wie eng man mit dem sagenhaften Kalifat im Morgenlande verbunden war. Das auch als Wink an den gemeinsamen Feind: Byzanz. Für Karl war Abul Abbas eine vierbeinige Insignie der Macht; gleichsam Zepter und Reichsapfel in einem.

Und der große Karl wurde zum großen Vorbild. Nach ihm hatte Stauferkaiser Friedrich II. einen Elefanten, Heinrich III. von England legte nach, es folgten Papst Leo X. und Sonnenkönig Ludwig XIV.

Weiß aber war ein sensationelles Alleinstellungsmerkmal. „Weiß“, singt der vierstimmige Chor im Elefanten-Requiem gleich in der Ouvertüre, „ist die Farbe, die alles in den Schatten stellt …“

Weiße Elefanten gelten in vielen Kulturen als heilig, Siam (heute Thailand) hatte bis 1916 sogar einen im Staatswappen. Ein großes Problem hatten dabei alle buddhistischen Verehrer: Wer einen weißen Elefanten besaß, musste ihn den Gläubigen zeigen, musste sie beherbergen und verköstigen. Das konnte einen ruinieren. Deshalb gelten bis heute in unterschiedlichen Kulturen und Sprachen (etwa englisch) als „white elephants“ Dinge oder Projekte, die nur Kosten und Ärger verursachen – wer dächte da nicht an Investitionsruinen wie den Bahnhof Stuttgart 21 oder den Berliner Flughafen BER.

Aber war Karls Elefant wirklich ein Albino? Oder einfach nur sehr hell? Und wie hätten die alten Aachener das einschätzen können – wo ihnen doch jede Vergleichsmöglichkeit fehlte? Dass er weiß gewesen sein soll, meint der Jenaer Mittelalterforscher Prof. Achim Hack, „habe ich in der älteren Forschungsliteratur nirgends gelesen“. Wahrscheinlich sei diese Behauptung „eine spätneuzeitliche Zuschreibung“: „Die fast uferlose populäre Literatur über den Frankenkaiser könnte der Nährboden für derartige Vorstellungen sein.“

Vielleicht war Abul Abbas auch nur etwas weniger grau als der Aachener Wolkenhimmel. Oder man war vom Elfenbein geblendet. Oder tollkühne Landmänner der Nordeifel hatten ihn beim Durchmarsch mit Mehl beworfen. Oder sein Leiden war der Grund: „Herr“, ruft der Hofstallmeister im Requiem einmal verzweifelt, „Herr, der Elefant wird täglich blasser!“

Die offizielle Geschichtsschreibung will wissen, dass Abul Abbas im Schlachtengetümmel der Karl’schen Heere beteiligt war. Tatsächlich waren Elefanten schon früher in Kriege gezogen. Eine indische Streitmacht stellte sich einst Alexander dem Großen mit einer Armee aus 200 Kampfdickhäutern in den Weg, quasi als Panzer des Altertums.

In den hofnahen Reichsannalen, der einzigen originären Quelle, steht zu lesen, dass Abul Abbas im Jahre 810 „plötzlich starb“, und zwar 150 Kilometer nordöstlich von Aachen. Und was hätte er sonst dort machen sollen, außer mit Karl gegen die Normannen und dieses ungläubige Sachsenpack zu ziehen! Heldentod eines treuen Gefährten? Nüchterne Forscher vermuten eher die Maul-und-Klauen-Seuche, die in jenen Jahren nahezu jedes Huftier dahinraffte.

Vieles spricht dafür, schreibt Achim Hack, dass al-Raschid den Elefanten, ob weiß oder nicht, gar nicht extra für diesen Karl in Indien hatte besorgen lassen, sondern dass das Tier selbst „schon damals ein diplomatisches Geschenk war“. Och, hat der Kalif vielleicht überlegt, da machen wir ein Schleifchen drum und schicken ihn diesem neu gekrönten Haudegen tief im Westen. So gesehen wäre Abul Abbas nur ein frühmittelalterliches Wichtelgeschenk gewesen. Und zugleich ein praktisches Transportmittel für die vielen prunkvollen orientalischen Gaben.

Für Bagdad hatte nicht mal der Frankenkaiser selbst eine besondere Bedeutung: „In der arabischen Historiografie“, schreibt der Mediävist Hack, „hat der Gesandtschaftswechsel zwischen Harun al-Raschid und Karl dem Großen keinen Niederschlag gefunden.“ Für das Kalifat war dieser Charlemagne eben ein kleines Licht. Militärisch erfolgreich, aber ungebildet und peripher – ganz anders als Bagdad, damals intellektuelles und multireligiöses Zentrum der Welt mit Universitäten und Gelehrten. „Boomtown und Weltkontakthof“, schrieb einmal die Zeit.

Der Elefant vom anderen Ende der Erdenscheibe ist somit auch ein wenig Legendenvernichter von Karls angeblich überragender Bedeutung.

Die Herrscher aus Bagdad haben ohnehin gern Elefanten verschenkt. 746 bekam der Kaiser von China einen Elefanten. Und noch ein Nashorn dazu. Über ein Nashorn Kaiser Karls, womöglich sogar ein weißes, ist nichts bekannt.