: Es ist nie zu spät fürs Abenteuer
Schicke neue Künstlernamen, Heimlichkeiten und ein Kurs in Graffiti-Entschlüsselung: Vier Damen und ein Herr retten die Ehre der Senioren als Graffiti-interessierte Zeitgenossen beim „Senior Street Art“-Workshop im Wrangelkiez
Sigrid will ihre erste Wand besprühen. Die 60-Jährige streckt sich, um an der Seniorenfreizeitstätte Falckensteinstraße einen kräftigen schwarzen Strich anzubringen. Aus dem Spruch „Rest in Peace“, seit Jahren an der Fassade, soll so ein „Best in Peace“ werden. „In Frieden wollen wir noch nicht ruhen“, kommentiert Sigrid trocken, die Umstehenden applaudieren.
Doch aus der Sprühaktion wird nichts: Erst reicht der Arm der zierlichen weißhaarigen Dame nicht, und als sie endlich auf einer Trittleiter steht, gibt es eine überraschende Wendung: Herr Stenzel gebietet Einhalt. Der 72-Jährige, der von allen in der Gruppe stets mit Nachnamen angesprochen wird, hat gerade von einem jungen Grafittisprayer aus der Nachbarschaft erfahren, wie das „Rest in Peace“ gemeint ist: In Frieden ruhen sollen nicht die Senioren, sondern der Sprüher Maxim, dessen Schriftzug ebenfalls an der Fassade prangt. Der junge Kreuzberger wurde erstochen, seitdem ehren ihn Szenekollegen auf ihre Weise. Herr Stenzel, der früher Typograf war, ist davon beeindruckt. „Ich finde, wir sollten den Spruch so lassen, aus Respekt für den toten jungen Künstler.“
Die erste Straßenkunstlektion haben die Teilnehmer der Projektwoche „Senior Street Art“ schon gelernt: Wen man respektiert, den übermalt man nicht. Lektion zwei folgt auf dem Fuß: Als die Rentner im angrenzenden Parkstück ihre Werke aus dem Malkurs probeweise an Bäumen und Wänden hängen, vermasselt ein Regenschauer die Überprüfung der ästhetischen Wirkung. Die Farben verlaufen und die Pappe wellt sich unansehnlich. „Straßenkunst muss nicht unbedingt gespritzt sein, aber immer wasserfest“, erkennt Herr Stenzel. Und wird sogleich von einer resoluten Dame belehrt, dass es nicht „spritzen“, sondern „sprühen“ heißt.
Projektleiterin Steffi Hanna freut sich über den Eifer, mit dem sich vier Damen und Herr Stenzel der Straßenkunst nähern. Obwohl sie sich mehr Teilnehmer gewünscht hätte, ist ihr Konzept aufgegangen: „Menschen über fünfzig nehmen die Kürzel, Schriftzüge oder Bilder im öffentlichen Raum als hässliche Schmierereien wahr, weil sie keinen Zugang zu den Ausdrucksformen haben“, sagt sie. Wer die verschnörkelten Buchstaben nicht lesen kann oder nicht weiß, wie viel Arbeit hinter einer selbst gebastelten Sprühschablone steckt, hat auch keinen Spaß an Street Art, so ihre These. Mit dem einwöchigen Kurs im Wrangelkiez will Steffi Hanna die Sprache der Wände mit den Teilnehmern entschlüsseln und ihnen die Möglichkeit geben, selbst in den Diskurs einzugreifen, der an den Wänden ihrer Nachbarschaft tobt.
Auf dem Stundenplan der von Quartiersmanagement und Seniorenamt unterstützten Aktion stehen ein Kiezspaziergang mit den Street-Artisten Ritsche und Zasd, eine Anwohnerbefragung und ein Praxiskursus mit Pinsel, Roller, Farbe und Sprühdose.
Ob die Teilnehmer dem Motto „Bringen Sie ihre Lebenserfahrung in die Öffentlichkeit!“ mit allen Konsequenzen folgen werden, bleibt ihnen überlassen. Zumindest zum Flirt mit der Illegalität sind alle bereit: Die Pseudonymberatung, ein Angebot der Künstlergruppe A.L.I.A.S., wird rege genutzt. Renate Maria, mit 76 die Älteste in der Gruppe, lockt gerade der Reiz des Verbotenen. Die kunstinteressierte Schönebergerin ist begeistert von dem Workshop: „Das Heimliche dieser Kunst ist neu für mich und ein Abenteuer ganz nach meinem Geschmack.“
Begeistert beantwortet die Pensionistin mit den extravaganten goldenen Schuhen Fragen nach ihrer Persönlichkeit und ihren geheimen Wünschen. Den poetischen Künstlernamen, den die drei jungen Pseudonymberater daraus für sie entwickeln, findet sie sehr schön. Ob sie ihr neues Alias tatsächlich einmal nachts an Wände sprühen wird, bezweifelt Renate dann aber doch: „Das überlasse ich lieber Leuten, die schneller abhauen können.“ NINA APIN
Senior Street Art, bis 3. Juni, rund um die Falckensteinstraße 6. Offener Workshop am 2. und 3. Juni ab 11 Uhr auf dem Generationenplatz. Anmeldung unter: 69 81 87 90