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Archiv-Artikel

Ein Land in schwerer See

GAZA-KRISE Im Konflikt mit Israel zeigt sich die tiefe Entfremdung der Türkei. Dass der Westen die Regeln bestimmt, wird hier immer weniger akzeptiert

Dilek Zaptcioglu

■ 49, ist in Deutschland aufgewachsen und lebt heute als Journalistin und Schriftstellerin in Istanbul. Von ihr erschien zuletzt das Buch „Türken und Deutsche. Nachdenken über eine Freundschaft“ (Brandes & Apsel).

Nonstop berichtet das türkische Fernsehen seit Tagen über den Konflikt mit Israel. Die Hilfsfahrt auf hoher See mag tollkühn gewesen, der Widerstand gegen das israelische Militär unerwartet militant ausgefallen sein. Doch wer die Übermacht hatte, das zeigen die neun Opfer, allesamt Türken. Dass sie den „Märtyrertod“ bewusst in Kauf genommen hätten, wie jetzt mancherorts behauptet wird, kann niemand beweisen. Sie, die selbst keine Schusswaffen besaßen, dürften die Eskalation der Gewalt genauso wenig erwartet haben wie die israelischen Soldaten.

Sicher geht der Hass auf Israel, den manche Aktivisten aus dem Umkreis des muslimischen Hilfsvereins Insan Yardim (IHH) hegen, weit über rationale politische Beweggründe hinaus. Und so gerechtfertigt die Verurteilung der israelischen Gewalt und seiner Unterdrückung der Palästinenser auch sein mag: Woher rührt dieser Fanatismus, von dem die „Nieder mit Israel!“-Rufe zeugen, die in diesen Tagen auf den Straßen Istanbuls zu hören sind? Und wie verhält sich die türkische Regierung dazu? Versucht sich die Türkei durch forciertes Israel-Bashing als Vormacht in der Region zu etablieren? Und genießt sie dabei gar heimliche Rückendeckung Europas?

Anfänge im Bosnienkrieg

Der islamische Hilfsverein IHH, dem das Flaggschiff der Flotille gehört, hat seine Ursprünge im Bosnienkrieg. Aus der Türkei wurden damals nicht nur Kämpfer und Waffen, sondern auch Lebensmittel, Kaffee, Schokolade und Spielzeug in Kriegsgebiet geschmuggelt. Heute versteht sich der IHH als muslimisches Pendant zu westlichen Hilfsorganisationen und ist auch in nichtmuslimischen Ländern wie Haiti oder in Afrika aktiv. Die Ehefrau des IHH-Mitbegründers Bülent Yildirim ist Bosnierin und lernte ihren Mann im Krankenhaus kennen, wo er nach einem serbischen Bombenangriff lag. Bülent Yildirim betont immer wieder, dass er nicht antisemitisch sei und dass an der „Free Gaza“-Aktion Menschen aus über 30 Ländern, darunter „Christen, Juden, Atheisten und andere“, beteiligt waren. Im Herbst will sein Verein eine neue „Friedensflotte“ für Gaza organisieren, falls die Blockade bis dahin nicht aufgehoben wird.

Auch der türkische Ministerpräsident spricht derzeit voller Zorn über die israelische Regierung, der er „Verbrechen an der Menschheit“ vorwirft, und gibt sich als Anwalt der Palästinenser. Er vermeidet verbale Attacken gegen die USA oder Europa und verneint einen außenpolitischen Kurswechsel: Die Türkei sei nach allen Seiten offen. Dessen ungeachtet sind die Beziehungen zu Israel auf einem historischen Tiefpunkt, während Erdogan selbst in vielen arabischen Ländern und im Iran als Held gefeiert wird.

Im offenen Streit mit Israel spiegelt sich die tiefe Entfremdung der Türkei vom Westen. Das Problem geht weit über das Palästinaproblem hinaus. Denn in den Augen vieler Türken haben die westlichen Länder schlicht „kein Recht“ mehr, dem Rest der Welt ihre Regeln zu diktieren. Dass Israel Atomwaffen besitzen darf, der Iran aber nicht, erscheint aus dieser Sicht unverständlich.

Der Islam als Alternative

Die Kritik am Westen kann in der offenen Ablehnung westlicher Lebensweisen und liberaler Normen gipfeln. So fragt man nicht nur in der Türkei: Warum soll Homosexualität staatlich toleriert und geschützt werden? Weshalb nicht Ehebruch gesetzlich bestrafen, um die Familienordnung zu bewahren? Weshalb soll eine westliche Lebensweise als modern und eine andere als unmodern gelten? Die Liste kann beliebig verlängert werden, hat man sich erst vom vorherrschenden westlichen Paradigma gelöst.

Die Definitionshoheit des Westens, sei es in der Wirtschaft, Kultur, Lebensweise oder in der Weltpolitik, wird in vielen Breitengraden nicht mehr akzeptiert. Diese Entwicklung, die durch den Aufstieg Chinas, Indiens oder Brasiliens und das Entstehen einer multipolaren Weltordnung begünstigt wird, trägt unübersehbar Züge einer „Revolte gegen die Herrschaft des weißen Mannes“. Immer mehr Menschen koppeln sich mental von einer Weltordnung ab, in der sie sich als Zweite-Klasse-Menschen fühlen. Die islamische Religion wird dabei immer mehr als eine Alternative angesehen.

Im Fall der Türkei speist sich die Abkehr vom Westen aus einer neuen, konservativ-muslimischen Bourgeoisie, die sich auch aus wirtschaftlichem Interesse gegen etablierte Strukturen wendet. So hinterfragt der islamische Ökonom Mustafa Özel, der im regierungsnahen Blatt Yeni Safak schreibt, in seinen Büchern die liberale Weltwirtschaft, in der westliche Monopole und Firmen das Sagen hätten und „freier Markt eine Heuchelei“ sei. Türkische Geschäftsleute sind aber nicht nur aus ideologischen Gründen gegen Iran-Sanktionen, sondern auch, weil sie mit dem Nachbarland gerne Handel treiben wollen. Hindernisse zum eigenen Nachteil will man nicht mehr hinnehmen. Hinzu kommt in der Türkei der neu entdeckte Stolz auf das osmanische Erbe, aus dessen einstiger Größe viel Selbstbewusstsein geschöpft wird – auch in Bezug auf Palästina, das ja mal „unser“ war.

Verlierer der Globalisierung

Erdogan verneint einen Kurswechsel in der Außenpolitik, nimmt aber gegen Israels Regierung Partei für die Palästinenser

Dieser Islamismus atmet einen internationalistischen Geist. So ist in türkisch-islamischen Fernsehsendern das Leben der amerikanischen Indianer genauso präsent wie afrikanische Filme oder afroamerikanische Gospelmusik: Alles, was der „Westen“ verdrängt, besiegt und vernichtet hat, zieht an. Junge muslimische Intellektuelle entdecken sogar Che Guevara, Jack Kerouac oder Salinger für sich.

Die Linke im Westen hat die „Verlierer der Globalisierung“ in der nichtwestlichen Welt dagegen zu lange allein gelassen. Sie hat sich für postmoderne Vielfalt, „Diversity“ und Kultur begeistert und die Ungleichheiten in der Welt zunehmend hingenommen. Jetzt aber ist eine internationalistische, liberale Linke gefordert: Liberal, um die Freiheiten des Einzelnen gegen totalitäre und konservative Vorstellungen zu verteidigen. International, weil wir alle voneinander abhängen. Und links, um über die Themen Gleichheit und Gerechtigkeit global diskutieren zu können. Sonst wird die These vom „Krieg der Kulturen“ noch zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Und dann hilft tatsächlich nur noch das Beten.

DILEK ZAPTCIOGLU