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Archiv-Artikel

Das Mitgliedervotum als Tragödie

Man sagt das so leicht dahin, dass etwas „tragisch“ sei, und meint gemeinhin irgendeine Art von Unglück. Wir Wiener, die wir uns stets im Unglück wähnen, dem aber eine gewisse Leichtigkeit abgewonnen haben, sagen auch gerne: „Das ist net so tragisch“, womit gemeint ist, dass irgendetwas zwar keine Freude sei, aber die Welt davon nicht untergeht.

In der Philosophie (und der Literatur) ist „das Tragische“ eine etwas präzisere Kategorie. Tragisch ist hier ein Verhängnis, aus dem es keinen Ausweg gibt, und die eminent tragische Konstellation ist die, in der man zwischen zwei unschönen Alternativen zu wählen hat. Eine tragische Philosophie denkt eine Welt, in der Friede, Freude und Pfefferkuchen nicht zur Auswahl stehen. Tragisch ist somit eine Wahl, die nicht zwischen Gut und Schlecht, sondern zwischen zwei Übeln getroffen werden muss.

Die ultimative tragische Wahl hatte beispielsweise der großartige Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, dessen – ja, wie soll man das eigentlich nennen? – Arbeits- und Sterbetagebuch „Arbeit und Struktur“ gerade gehypt wird und der am Ende nur mehr die Entscheidung zu treffen hatte, ob er am Gehirntumor elend sterben will oder sich vorher eine Kugel in den Kopf jagen soll (er tat Letzteres). Und doch ist es noch ein Aufbäumen des selbstbestimmten Subjekts, wenn man immerhin diese Wahl hat, weswegen er auch notierte, „die mittlerweile gelöste Frage der Exitstrategie hat eine … durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich“.

Verglichen mit Herrndorfs Sterben ist es, umgangssprachlich formuliert, selbstverständlich „net so tragisch“, wenn die SPD demnächst in einer Großen Koalition mitregiert, ja es verbietet sich geradezu, das politische Dilemma der Sozialdemokraten mit dem existenziellen Drama des großartigen Autors in einem Atemzug zu erwähnen, und dennoch sind auch die SPD-Mitglieder, philosophisch formuliert, in einer „tragischen Situation“. Stimmen sie mit Ja, dann ketten sie ihre Partei als Juniorpartner an die Union in einer Koalition, in der es in den wesentlichen wirtschafts- und europapolitischen Fragen keinen substanziellen Kurswechsel geben wird, sondern eine Prolongierung der Austeritätspolitik. Stimmen sie mit Nein, verwandeln sie auch die paar guten Pläne des Koalitionsvertrages in Makulatur und schießen gleichzeitig ihre Parteiführung auf den Mond, wozu man ihnen ehrlich nicht unbedingt raten möchte.

So wird die mediale Berichterstattung durch diese Auswahl zwischen zwei unschönen Alternativen bestimmt und durch die aufgeregte Debatte darüber: Wird die Parteibasis nun Ja sagen oder Nein? Dabei geht das Spektakuläre, das Bemerkenswerte, das Sensationelle des Vorganges etwas unter: dass die Parteibasis, die Mitgliedschaft, überhaupt abstimmen darf. Welch eine Kulturrevolution hin zu mehr Partizipation, zu Lebendigkeit und Leidenschaft der politischen Debatte das bedeutet! Wie hier gerungen wird in den Parteiversammlungen! Wie Sigmar Gabriel und seine Führungscrew gezwungen sind, in eine Diskussion mit den eigenen Leuten zu treten! Und wie offen der Ausgang ist! Da gibt es kein Hinterzimmermauscheln mehr, und das Strippenziehen hat auch seine Grenzen (sofern alles legal bleibt). Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass das bisher in seiner Bedeutung noch gar nicht ausreichend gewürdigt ist.

Man ist beinahe versucht zu sagen, dass Sigmar Gabriel, allein dafür, dass er diese Abstimmung ermöglicht hat, das Ja zu der von ihm ausgehandelten Großen Koalition verdient hat, aber das ist natürlich ein wenig zu sehr um die Ecke gedacht, weil das würde ja bedeuten, dass man aus Dank für die innerparteiliche Demokratie einen Knicks vor der Parteiführung macht. Demokratie und Dankbarkeit vertragen sich nicht immer, Demokratie ist oft auch undankbar.

Ohnehin relativiert sich, wenn man das Ganze aus Wien betrachtet, das Tragische dieser Auswahl. Auch in Österreich verhandeln Sozialdemokraten mit der konservativen Volkspartei über eine Große Koalition, und die Gespräche haben sich bereits ordentlich verhakt. SPÖ und ÖVP werden, sollte es nicht noch total krachen, am Ende trotzdem die Große Koalition bilden, wie praktisch immer seit 1986, wenn man von der düsteren Episode der Rechtskoalition von ÖVP und FPÖ („schwarz-blau“) absieht. Sie sind praktisch zur Großen Koalition gezwungen, weil es zu dieser Regierungskonstellation keine vernünftige rechnerische Alternative gibt. Und trotzdem schaffen es die koalierungswilligen Parteien nicht einmal notdürftig zu kaschieren, dass sie sich in Wirklichkeit abgrundtief hassen. Das macht das Regieren nicht gerade erfolgversprechender.

In Österreich ist, kurzum, alles noch viel verfahrener. Aber das ist net so tragisch.

ROBERT MISIK