: Defensiviertes Turnierteam
Die Vorbereitung ist abgeschlossen, aber eine entscheidende Frage noch nicht beantwortet: Wird die DFB-Auswahl den Mut aufbringen, das von ihrem Trainer präferierte, riskante Spiel umzusetzen?
VON DANIEL THEWELEIT
Jene Leute, die Rudi Völler einst so treffend als „Gurus und Ex-Gurus“ bezeichnete, sind perfiderweise gerade jetzt dabei, besonders laut über die Zukunft Jürgen Klinsmanns zu diskutieren. Drei Tage vor der WM ist das eine Debatte so nutzlos wie eine Sommergrippe-Epidemie.
Oliver Bierhoff fühlte sich deshalb am Wochenende gar zu einem Machtwort genötigt: „Wer jetzt die Trainerfrage diskutiert, hat die Ernsthaftigkeit dieser WM nicht verstanden“, zürnte der Teammanager. Es geht immer noch um das Große und Ganze des klinsmannschen Werkes: Ist es dem Schwaben gelungen, den deutschen Fußballern die von ihm präferierte, offensive, riskante, schnelle und aggressive Art des Spiel beizubringen? Ist das überhaupt möglich? Und wird diese deutsche Mannschaft tatsächlich den Mut besitzen, diesen Spielansatz umzusetzen?
Es wird Zeit, dass es losgeht. Man kann Klinsmann und seinen Leuten zwar vorhalten, dass sie drei Tage vor dem Beginn der Weltmeisterschaft immer noch keine Klarheit in diese Debatte gebracht haben, aber das ist eben der Preis für einen fußballphilosophischen Paradigmenwechsel, dessen Erfolg immer erst im großen Wettbewerb messbar ist. Nach dem 3:0 im Testspiel gegen Kolumbien am Freitag betonte Klinsmann noch einmal, dass er weiterhin „schnell, offensiv und in die Vertikale“ spielen wolle.
In der Partie, die dieser Aussage vorausging, hatte er allerdings eine eindeutig vorsichtigere Grundaufstellung angeordnet als beim Besorgnis erregenden 2:2 gegen Japan drei Tage zuvor. Die Zeit der Experimente ist vorbei, Michael Ballack und Torsten Frings werden wohl auch im ersten WM-Spiel im Zentrum des Vierermittelfeldes stehen und bei gegnerischem Ballbesitz tief in der eigenen Hälfte Räume verengen. „Das war ausnahmslos eine bessere Mittelfeldarbeit“, lobte Assistenztrainer Jogi Löw die defensivere Grundordnung vom Freitagabend, und ergänzte: „Das ergibt im Endergebnis eine bessere Defensivleistung, und dann ist gar nicht die Frage, ob die Abwehr Schwächen hat.“
Opfer dieser erneuerten Aufgabenverteilung ist Tim Borowski, der Meister des von Klinsmann so geschätzten vertikalen Passes. Der Bremer ist nur Ersatzmann – für Bernd Schneider rechts im Mittelfeld, für Ballack und für Torsten Frings zentral, sogar für Schweinsteiger links. Er ist der Topspieler unter den Männern von der Bank. Der fehlgeschlagene Versuch, Borowski in die erste Elf zu integrieren, ist ein weiteres Indiz dafür, dass bei der WM eine kontrolliertere Variante des Klinsmann-Fußballs zu erwarten ist.
Gegen Kolumbien brachte die Mannschaft allerdings trotz dieser Defensivisierung einige sehr hübsche Angriffsaktionen zustande. Ob das auch gegen stärkere Gegner klappt, bleibt aber eine Frage, die vielleicht erst beantwortet wird, wenn es schon zu spät ist. Die große Waffe des Teams bleibt unterdessen eine altbekannte: Standardsituationen. Vier der fünf Treffer gegen Japan und Kolumbien fielen nach Ecken oder Freistößen. Diese Stärke soll in den letzten Tagen weitertrainiert werden.
Nach zwei freien Tagen über Pfingsten traf sich die Mannschaft am gestrigen Montag im Berliner Schlosshotel Grunewald wieder, wo noch „sehr viel Arbeit“ vor dem Team liege, wie Klinsmann sagte. Das klang, als hätte auch der Bundestrainer zum jetzigen Zeitpunkt gerne ein etwas ausgereifteres Stadium erreicht. Die Zeit ist knapp.
Die größte Baustelle ist dabei weiterhin die defensive Ordnung. „Taktischen Feinschliff“ nennt Klinsmann das, die Viererkette mit Gipsarm Philip Lahm, dem verunsicherten Arne Friedrich und Christoph Metzelder sowie Per Mertesacker in der Innenverteidigung ist noch keine harmonisch-dichte Einheit. Deshalb müssen Ballack und Frings tiefer in der eigenen Hälfte aushelfen, als in Klinsmanns Idealvorstellung angelegt. Das im letzten Moment zu Ende gearbeitete Flickwerk muss sich also weiterentwickeln, aber Deutschland gilt ja als Turniermannschaft, und dieser Begriff enthält ja die Fähigkeit, mit hoher Geschwindigkeit zu reifen.
Und wenn Bastian Schweinsteiger diesen erforderliche Prozess deutlich mitgestaltet, könnte er in den kommenden Wochen zu jenem international herausragenden Fußballer werden, der dem Team in den vergangenen Wochen fehlte. Der Münchner ist derzeit so etwas wie der Star in einem Team, das eigentlich keine Stars haben sollte, doch das tut der Mannschaft sichtbar gut. „Er fühlt sich sehr wohl in der Nationalmannschaft, wo er weiß, dass er spielt, wenn er einigermaßen in Form ist“, erklärte Löw, der vor der Partie gegen Kolumbien eine Viertelstunde lang allein mit Schweinsteiger auf dem Rasen stand und diskutierte. Auch daran ist die Bedeutung des Münchners abzulesen, der in einer Atmosphäre des Zweifels in den vergangenen Wochen so etwas wie der prominenteste Repräsentant von Klinsmanns lustvollem Vertikalfußball war.