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Archiv-Artikel

IN STADTTEILEN, DIE NICHT ZU DEN RICHTIGEN GEHÖREN, SCHÄMEN SICH DIE LEUTE UND SUCHEN DANN NICHT DEN WEIHNACHTSMARKT AUF, DER IHNEN ZUSTEHT Als wäre man ein Korn und ginge durch Walzen

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Es kommt die schöne Zeit. Rentier, Whams „Last Christmas“, Champignon, Knabenchor, Glühwein mit und ohne. Die Weihnachtsmärkte sind aus der Erde geploppt, haben sich auf allen freien Plätzen gruppiert und Millionen Lichter an das Stromnetz angeschlossen. Der Hamburger Weihnachtsmarkt hat an und für sich schon mit dem letzten „Dom“ angefangen, also am 8. November, und wen es interessierte, der konnte sich da schon den ersten kandierten Apfel kaufen und mit Schnaps und Klingklangklong in den Taumel der bimmelnden, kreischenden Glückseligkeit begeben. Am schönsten in der Gruppe, am schönsten geschlechtergemischt, mit Hoffnungen am Anfang und Erbrechen am Ende. Egal, Spaß.

Auf dem Rathausmarkt ist der Weihnachtsmarkt romantisch. Man kann es sich gut vorstellen, wenn man tagsüber und unter der Woche den Versuch macht und mal so daher schlendert, zwischen den Edelsteinen und der selbstgedrechselten Wurst. Dann schließe man die Augen und denke sich, es wäre Adventssonntag. Wenn man tatsächlich am Adventssonntag den Wagemut besitzt, sich der Romantik vor dem Rathaus auszusetzen, dann geht das nicht ohne Schnaps. Aber auch mit ist es ein erfrischendes Erlebnis, wie als wäre man ein Korn und ginge durch Walzen und käme als Mehl wieder heraus.

Es gibt allerdings in einer Großstadt nichts Schöneres als einen Weihnachtsmarkt in einem Stadtteil, der nicht zu den richtigen zählt. Dass ein Stadtteil nicht zu den richtigen zählt, erkennt man daran, dass er nicht auf den Zetteln aufgelistet ist, mit denen an Laternen nach einer Wohnung gesucht wird. Entsprechend schämen sich die Leute aus diesen Stadtteilen und achten ihre Heimat gar nicht und gehen, wenn, dann auf den Weihnachtsmarkt auf dem Jungfernstieg oder auf den „Hamburger Dom“. Nur die Harten gehen auf ihren eigenen Weihnachtsmarkt. Der ihnen zusteht.

So wie ich. Ich wohne in Eilbek und mein Favorit unter allen Weihnachtsmärkten ist der mir zugehörige Weihnachtsmarkt in Wandsbek vor dem „Quarree“. Er befindet sich zwischen der fünfspurigen Schlossstraße und der sechsspurigen Wandsbeker Marktstraße, direkt vor dem Busbahnhof. Es gibt hauptsächlich Getränke und das reicht ja auch. Okay, es gibt auch Würste und Mandeln und eine Eisbahn in Zimmergröße.

Ich ziehe die Mütze über meine Ohren, denn es ist laut, sehr laut. Das kommt zum einen von dem sechsspurigen Verkehr von der einen Seite und zum anderen von dem fünfspurigen Verkehr von der anderen Seite und dann auch noch von den Linienbussen vom Busbahnhof. Damit man das nicht hört, gibt es Musik im Disco-Fox „Lieber Weihnachtsmann – ich danke dir – dass du auch an mich gedacht – dass du mir – meine Jugendliebe – hast – zurückgebracht.“ Ein Mann mit Schnäuzer und gelber Kunstlederjacke spendiert mir einen Glühwein mit. Ich muss ihm gleich verständlich machen, dass ich sexuell nicht an ihm interessiert bin. Aber er hat es schon fast geahnt, er ist Kummer gewöhnt.

Eine Frau in pinkfarbener Leggins legt sich hinter die Tannen in die Stromkabel. Ein brüllendes Kind kriegt eine Kopfnuss an die Mütze und danach eine Pommes. Eine Greisin nimmt ihre Zähne heraus, pult was hervor, schiebt sie wieder rein und sieht währenddessen den Schlittschuh-Kindern zu, die auf dem Eisteich von Bande zu Bande prallen. Die Leggins-Frau ist aus den Kabeln schon wieder erwacht und erhebt sich seufzend. „Noch einen?“, fragt mich der Mann am Glühweinstand. Der Schnäuzermann hebt hoffnungsvoll die Brauen, aber ich winke ab und das Leben rauscht voller Wucht vor meine glasigen Augen und Ohren und in meinen Bauch.

Das, Freund und Mitbürger, ist der Weihnachtsmarkt in deinem Stadtteil, einem, der nicht zu den richtigen gehört. KATRIN SEDDIG Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen