: „Die Grünen liegen falsch“
Daniel Cohn-Bendit hält den Deutschen „Janusköpfigkeit“ vor: Sie wollen sich mit der WM vor allem vergnügen. Okay. Aber deshalb verschließen sie die Augen vor Problemen wie No-go-Areas
taz: Sehen Sie eine neue Patriotismus- oder Nationalismusentwicklung in Deutschland, die bei dieser WM geschaffen oder ausgelebt werden wird, Herr Cohn-Bendit?
Daniel Cohn-Bendit: Nein. Sollten die Deutschen Weltmeister werden, was ich nicht glaube, würden alle sagen: Es war eine Zusammenfügung von glücklichen Bedingungen. Keiner würde behaupten, dass die Deutschen die Besten sind.
Aber bedenken Sie: Ein Wunder von Berlin. Ein Stoff aus Tausendundeiner Nacht.
Ach, weder würde sich ein übertriebenes Nationalbewusstsein entwickeln. Schon gar nicht würde die Arbeitslosigkeit behoben und alles toll in Deutschland. Und Merkel und Müntefering würden auch nicht plötzlich gut aussehen und charismatisch erscheinen.
Was will die Gesellschaft dann von und mit dieser WM?
Was es gibt, ist der Wunsch nach Party. Vor allem die Jugendlichen wollen gepackt und emotional begeistert werden. Sie sehen die WM als Party. Deshalb hat sich eine Multiidentität entwickelt, um auf jeden Fall bis zum Finale am 9. Juli weiter Party machen zu können. Ich habe das Gefühl, dass die Leute deshalb so ein bisschen die Hände vor die Augen tun, wie kleine Kinder, die denken, sie seien unsichtbar.
Warum?
Um sich nicht fragen zu müssen: Was ist mit den No-go-Areas? Wo werden sich die Hools eigentlich prügeln: im Wald, in Bordellen, bei Public Viewings? Es gibt Albträume, die man verdrängt. Gar nicht zu reden von der Erinnerung an München 1972 und die Angst vor Anschlägen. Alle beten, dass die Welt vernünftig sein möge. Ich eingeschlossen.
Zu wem beten Sie?
Zum runden Ball.
Tadeln Sie den Party-Wunsch?
Das Janusköpfige der deutschen Fußballwelt, das ist das Interessante. Party feiern ohne Ende in Rothenburg/Wümme mit Trinidad und Tobago oder mit Togo in Wangen im Allgäu: Je schwärzer, desto schöner. Und auf der anderen Seite hast du No-go-Areas.
Welcher Kopf ist Deutschland?
Beides ist Deutschland. Es wäre fatal, wenn man nur das eine oder andere als das wahre Deutschland bezeichnen würde.
No-go ist im Osten.
Man hätte die Mannschaften im Osten unterbringen müssen.Was wäre, wenn Trinidad in Potsdam wäre und Angola in Wörlitz? Das hätte vielleicht die Stimmungen in diesen Gegenden verändert.
Sind Sie eigentlich diesmal für Deutschland?
Ich glaube, dass die Mehrheit der Deutschen in Deutschland für Deutschland ist. Es handelt sich da aber nicht um ein „Deutschland über alles“, sondern um ein säkularisiertes und laizistisches „Deutschland vor, noch ein Tor“. Ein normalisiertes Nationalgefühl. Bei den Einwanderern ist es freilich schon wieder anders.
Sind Sie für Deutschland?
Eins muss man verstehen: Man ist immer für die Mannschaft, mit der man aufgewachsen ist. Ich bin mit französischem Fußball aufgewachsen, mit Kopa, mit Fontaine …
… den Helden der 50er …
… das hat mich geprägt. Man ist auch mit einer Küche sozialisiert, das bestimmt die Grundstruktur deines Geschmacks.
Und wenn man mit den Förster-Brüdern aufgewachsen ist? Isst man immer Schnitzel?
Es war doch grade die Mischung, die Deutschland stark gemacht hat. Beckenbauer ohne Schwarzenbeck hätte nicht funktioniert. Aber die Identifikation mit Nationalmannschaften ist längst durch den Alltag aufgeweicht. Die deutschen Anhänger von Ze Roberto oder Lucio wenden sich ja nicht nationalistisch ab, wenn die für Brasilien spielen. Für eine Nationalmannschaft sein bedeutet nicht mehr, gegen die anderen zu sein.
Das ist aber im Fantum genau so angelegt.
Das verändert sich. Ich glaube, wenn Schweinsteiger gegen Ronaldinho so einsteigt wie im Testspiel gegen die Japaner, dann hat er nicht die Sympathien der deutschen Fans.
Wie finden Sie Klinsmann?
Berti Vogts sagte, Klinsmann sei kein herausragender Spieler gewesen, aber er könnte ein genialer Trainer werden. Er hat Recht. Klinsmann jammert nicht, riskiert viel, nimmt die Spieler mit.
Er will etwas gewinnen, er hat nichts mehr zu verteidigen?
Fachlich gesehen will er, dass die Verteidigung so weit wie möglich vor dem Tor ansetzt. Das ist vernünftig.
Stellt aber die höchsten Anforderungen.
Wenn sie schnell überwunden wird, hat man tatsächlich ein Problem. Man kann jederzeit auf den von Oldies wie Breitner diskutierten Angsthasenfußball umstellen. Aber bei dieser WM wird Deutschland, das Fußballteam, nur dann etwas gewinnen können, wenn es etwas riskiert. Und Deutschland, das Land, wird nur etwas gewinnen, wenn es Reformen riskiert. Ich meine nicht neoliberale Reformen. Deshalb liegt Lafontaine so falsch: Weil er nichts riskiert und beim alten Denken stehen bleibt. Und die große Koalition liegt falsch, weil sie nichts riskiert, und die FDP riskiert auch nichts.
Aber die Grünen liegen richtig?
Nein, die Grünen liegen auch falsch, weil sie auch zu wenig riskieren, um ihr eigenes Projekt einer Runderneuerung zu unterziehen. Klinsmann hat etwas gewagt. Und das könnte mich fast zu einem Anhänger der deutschen Mannschaft machen.
Sie sind für Deutschland?
Ich sagte: fast. Und ich bleibe dabei: Weltmeister wird Brasilien. Oder Frankreich.
GESPRÄCH: PETER UNFRIED
DANIEL COHN-BENDIT, EU-Spitzenpolitiker, gehört zum WM-Analyseteam der taz. Morgen: ULRICH FUCHS