: „Der Profikiller war zuerst verschlossen“
RUSSENKRIMI Als Martin Cruz Smith seine Krimifigur Arkadi Renko erfand, wurde das Buch vom Verlag abgelehnt: Ein Sowjetpolizist als Held? Cruz Smith über den neuen Renko-Roman und seine Recherchen in Russland
INTERVIEW KATHARINA GRANZIN
Als Martin Cruz Smith Ende der siebziger Jahre erstmals in die Sowjetunion reiste, hatte er einen Vertrag mit einem amerikanischen Taschenbuchverlag in der Tasche, der ihn beauftragte, für einen Kriminalroman zu recherchieren. Der sollte in Moskau spielen, mit einem amerikanischen Detektiv als Hauptfigur, der den sowjetischen Ordnungskräften zeigt, wie man nach allen Regeln der Kunst ein Verbrechen aufklärt.
Der Autor flog hin, sah sich um, flog zurück und schrieb die ersten zweihundert Seiten eines Romans, der später „Gorki Park“ heißen würde (und in einem gleichnamigen Film minderer Qualität verwurstet werden sollte). Er spielte in Moskau, und es gab darin einen amerikanischen Polizisten, der aber eine bloße Randfigur war. Zum Helden der Geschichte hatte der Autor einen jungen sowjetischen Polizeioffizier gemacht, einen eigensinnigen Charakter von fanatischer Rechtschaffenheit mit Namen Renko. Arkadi Renko. Der Verleger war nicht amüsiert und bestand auf einem amerikanischen Helden. Der Autor bat, sich loskaufen zu dürfen. Der Verleger lehnte ab. Der Autor weigerte sich, am Buch weiterzuarbeiten. Erst Jahre später, sagt Cruz Smith, zerschlug sich der Knoten, als der Verleger entlassen wurde. Der Roman erschien 1981, wurde ein Welterfolg und brachte seinem oft von bitterer Armut geplagten Autor endlich Ruhm und Ehre, darunter den renommierten Gold Dagger, ein.
Mittlerweile hat Martin Cruz Smith seinen siebten Arkadi-Renko-Roman vorgelegt. Kinder sind die Hauptfiguren in „Die Goldene Meile“ (Deutsch von Rainer Schmidt, C. Bertelsmann, 256 S., 19,95 Euro), einem so düsteren wie spannenden Thriller, der von einem entführten Baby handelt, von Zwangsprostitution, dem harten Leben russischer Straßenkinder und dem verschwenderischen Dasein der Moskauer Neureichen. In puncto kritischer Wirklichkeitsnähe (und in den allermeisten Fällen auch im literarischen Anspruch) ist der Amerikaner seinen zahlreichen russischen KrimikollegInnen damit weit voraus.
Zum Gespräch in einem Berliner Hotel erscheint der Autor in Jeans, kariertem Hemd und lederner Schultertasche. Nicht wie ein Tourist sieht er aus, sondern wie ein Reisender. Seine Frau wartet gleich nebenan, denn anschließend soll der Reichstag besichtigt werden.
Sprechen Sie eigentlich Russisch?
Nein.
Wie schreiben Sie dann Ihre Bücher?
Auf Englisch!
Ja, schon klar. Aber Sie müssen doch viel recherchieren und reisen?
Ja, und Fragen stellen! Ich habe es ja versucht mit dem Russischen. Ich hatte ein Buch mit Aufklebern für alles in der Wohnung. „Tür“, „Kühlschrank“, „Schinken“. Das habe ich genau eineinhalb Tage ausgehalten. Mit der Rosetta-Stone-Technik habe ich es auch probiert, die sehr populär in den Staaten ist. Unter den Features gibt es einen Voice-Graph, der zeigt, wie ein Wort ausgesprochen wird, und auch, wie man selbst es ausspricht. Man hört und sieht es gleichzeitig. Leider hatte mein Voice-Graph überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Original! Es hatte keinen Sinn mit mir. Natürlich ist die Sprachbarriere ein Handicap, wenn ich in Russland bin. Aber es hat auch Vorteile, denn es bedeutet, dass ich wirklich ganz genau hinsehen muss. Und ich habe wunderbare Recherchehelfer, die verstehen, worauf ich aus bin. Dass man zum Beispiel, um einer Frage Tiefe zu geben, auf den Leveln A, B und C ganz dumm fragen muss, ganz oberflächlich, um zum wirklichen Thema zu gelangen.
Sie haben mit Arkadi Renko einen Charakter entwickelt, der im Polizeiapparat eine Außenseiterposition einnimmt. Reflektiert er in gewisser Weise den Blick, den Sie, als Ausländer, auf Russland haben?
Ich weiß ja nicht, wie es sich anfühlen würde, als Insider zu schreiben. Und ich fühle mich generell sehr viel wohler mit einer Außenseiterperspektive. Als ich das erste Mal in Moskau war, wurde ich mit großem Misstrauen beobachtet. Später wurde ich eingeladen ins Innenministerium, in ihre Clubs, zu Grillfesten. Die Generäle wetteiferten geradezu darin, Videos zu drehen, auf denen sie Arm in Arm mit mir zu sehen waren. Das war äußerst unangenehm. Nach dieser Erfahrung habe ich solche Anlässe strikt gemieden.
Mit welcher Art von Leuten haben Sie Ihre Recherchegespräche geführt?
Mit allen möglichen Arten. Zum Beispiel sahen mein Fotograf und ich einmal vom Hotelfenster aus einen Milizionär, der draußen Autos anhielt und sich von den Fahrern Geld geben ließ. Wir gingen hinunter, um zu fragen, was er da mache. Und er sagte, oh, Sie müssen verstehen, ich verdiene furchtbar wenig Geld. Und diese Leute besitzen Autos, hundert Rubel weniger machen sie nicht arm. Er lieferte sich uns praktisch aus.
Er stand an der Straße und hielt irgendwelche Autos an?
Direkt am Platz der Revolution. Er fand irgendwelche Gründe, um die Leute zu verwarnen. Eine andere, wirklich eindrucksvolle Begebenheit war ein Gespräch, das ich mit jemandem ganz vom Rande der Gesellschaft hatte, einem Profikiller. Ein massiver Typ, in Schwarz gekleidet, mit gelb gefärbten Haaren. Er war zuerst sehr verschlossen; also mussten wir ganz von vorn anfangen. Und ich fragte: Was tun Sie als Erstes, wenn Sie morgens aufstehen? Und behandelte ihn nicht anders als eine kleine alte Dame, die einen Sack Kartoffeln trägt – als ob er ein Mensch wäre. Und Stück für Stück, obwohl wir über einen Dolmetscher kommunizierten – das war ein Jurastudent, dem der Schweiß nur so herunterrann –, kam er aus sich heraus. Allmählich konnte man ihm in die Augen sehen, er entspannte sich immer mehr, und irgendwann sagte er: Ich schäme mich für das, was ich tue. Manchmal, wenn ich jemandem etwas antue, denke ich an meinen Sohn. Und schäme mich.
Wie haben Sie ihn gefunden? Und wieso hatte er sich überhaupt bereit erklärt, mit Ihnen zu sprechen?
Das war ein Arrangement zwischen seinem Boss und einem Polizeioffizier, den ich kannte.
In Ihrem neuen Roman geht es auch um eine Gang von Straßenkindern. Wie sind Sie dieser Welt nahegekommen?
Ich war mehrfach in einem Haus, wo solche Kinder betreut werden. Die Kinder, die sie dort hatten, waren zwischen fünf und fünfzehn. Sie hatten sich prostituiert, sie hatten gestohlen; Missbrauch war noch das geringste der Dinge, die sie erlebt hatten. Aber sie hatten noch großes Glück gehabt. Es waren nette Kinder. Trotzdem gingen ein paar von ihnen, Jungs im Teenageralter, eines Nachts auf die Straße und erstachen einen Mann – einfach so, aus reiner Neugier. Diese Art von Gewalt ist die ganze Zeit mit ihnen.
Wie lange waren Sie in Russland, als Sie für Ihr letztes Buch recherchiert haben?
Ich mache eine etwa zehntägige Reise dorthin, fliege nach Hause, lese, und komme danach wieder und wieder. Und jedes Mal weiß ich besser und genauer, wonach ich suche.
Ihre Romane werden von der Kritik ihrer großen Authentizität wegen gelobt. Hören Sie das auch von Lesern?
Ja, ständig. Ich freue mich sehr, wenn Leute mir sagen, dass sie aus meinen Büchern mehr über Russland erfahren haben. Das Beste daran ist, dass es Leute von beiden Seiten des politischen Spektrums sind. Die Linken finden, es bestätige ihre Weltsicht, und die Rechten sagen das Gleiche. Das ist toll, denn es zeigt, dass es wahrscheinlich zu einem Teil einfach die Wirklichkeit ist.
Arbeiten Sie schon an etwas Neuem? Sie wirken irgendwie so, als hätten Sie ständig neue Pläne.
Das stimmt, und es ist sehr ablenkend. Ich habe mehrere Ideen. Eine hat damit zu tun, was in Norditalien zur Zeit von Mussolinis Republik von Salò passiert ist. Auch der Spanische Bürgerkrieg hat mich schon immer interessiert.
Und es wird wohl auch einen nächsten Arkadi-Renko-Roman geben? Immerhin sind ein paar der Charaktere deutlich auf weitere Entwicklung angelegt, wie Shenja, Arkadis Ziehsohn.
Ja, da muss etwas passieren, auch in Shenjas Beziehung zu Arkadi. Ich bin auch gespannt, wie lange Arkadi sich noch in dem Irrglauben befinden wird, kein gewalttätiger Mensch zu sein. Denn wenn man die Leichen zählt, die er hinterlässt, muss man zu einem anderen Schluss kommen. Nun, wir werden sehen, was passiert. Es ist auch für mich eine Alice-im-Wunderland-Welt. Sie lädt zu immer neuen Entdeckungen ein.
Im abschließenden Smalltalk outet der Vielgereiste sich als Berlin-Neuling und bittet noch, etwas überraschend: „Please explain Kromer to me!“ Am Abend vorher, finden wir dann heraus, hat er im deutschen Fernsehen Kurt Krömer erlebt. Zwar hat er kein Wort verstanden, fand ihn aber allein vom Hinsehen außergewöhnlich. Die Erinnerung bringt ihn immer noch zum Lachen.