Die Reisefreiheit der anderen

Wie beantragt man eigentlich in Gambia ein Visum für den Schengenraum? von Paolo Gaibazzi

Bei dem Begriff „undokumentierte Migration“ denkt man automatisch an Menschen, die in europäischen Ländern leben und üblicherweise mit dem bedenklichen Ausdruck „illegale“ oder „irreguläre“ Migranten belegt werden (in Frankreich nennt man sie sans-papiers).

Aber natürlich denken wir bei dem Wort unwillkürlich auch an Tragödien wie die vom 3. Oktober: den Untergang eines überfüllten Boots voller Flüchtlinge vor Lampedusa, bei dem mindestens 359 Afrikaner den Tod fanden. Die meisten von ihnen stammten aus Somalia und Eritrea und wollten in Europa politisches Asyl beantragen – wie die vielen anderen, die eine derart gefährliche Überfahrt riskieren, weil ihnen das Recht auf legale Einreise in die Europäische Union, und damit auf ein sichereres Transportmittel, verwehrt wird.

Aber ich will hier weder die schrecklichen Bilder dieser Tragödien abrufen noch auf die heftigen politischen Kontroversen eingehen, die solche Ereignisse immer wieder zur Folge haben. Hier geht es vielmehr um andere „undokumentierte“ Personen, die man „sans-visa“ nennen könnte: Menschen also, die sich nicht an den bewachten Eingangstoren Europas drängen, sondern in ihrer westafrikanischen Heimat direkt um ein Visum ersuchen. Wie schwer es ist, ein Visum für ein Schengenland (aber auch die anderen EU-Staaten) zu bekommen, zeigt sich ja bereits darin, dass es in Europa so viele „undokumentierte“ Migranten gibt.[1]

Aber was Menschen tatsächlich erleben, wenn sie sich – meist vergeblich – um ein Schengenvisum bemühen, bleibt diesseits der europäisch-afrikanischen Grenzen weitgehend undokumentiert. Wir erfahren darüber bestenfalls durch persönliche Berichte von Bekannten, Partnern oder Kollegen, die sich erfolgreich durch das Labyrinth des Antragsverfahrens für ein Visum gekämpft haben. In Westafrika dagegen sind solche Geschichten – mit ihrem zumeist unguten Ende – völlig alltäglich.

In vielen westafrikanischen Regionen und nicht nur dort bedeutet ein Visum nicht nur ein Recht auf grenzüberschreitendes Reisen, sondern auch den Zugang zu einem künftigen Leben in Würde. Um nicht in Verallgemeinerungen zu verfallen, erzähle ich hier von den Verhältnissen in Gambia, wo ich mich aufgrund meiner Forschungsarbeit am besten auskenne.

Gambia hat drei schwierige Jahrzehnte hinter sich, geprägt von harten Sparmaßnahmen, einer extrem unsteten Wirtschaftsentwicklung, dem Niedergang der Landwirtschaft und verschärfter politischer Repression. Deshalb betrachten immer mehr junge Leute die Auswanderung in ein anderes afrikanisches Land oder, noch besser, auf einen anderen Kontinent als Ausweg aus der Sackgasse, in der sie in vielerlei Hinsicht stecken. Zum Beispiel weil sie keine Schul- oder Studiengebühren zahlen können oder nicht genug Geld zum Heiraten haben oder notleidende Verwandte unterstützen müssen.

Aber Geld ist natürlich nicht das einzige Motiv. Es gibt auch junge Leute ohne akute finanzielle Probleme, die einfach im Ausland studieren wollen. Viele haben auch nur den schlichten Wunsch, andere Ecken der Welt kennenzulernen. Wieder andere wollen ihren Vätern oder Brüdern nacheifern, die von zu Hause aufgebrochen sind, um ihr Glück – oder neues Wissen und andere Erfahrungen – im Ausland zu suchen.

Kurzum: In ganz Westafrika gelten Reisen und Ortswechsel als ganz normale oder gar selbstverständliche Etappen im Leben eines Menschen. Dabei gab es in jeder historischen Phase ein besonders begehrtes Migrationsziel, ohne dass man die betreffenden Orte oder Länder je zu einem Dorado verklärt hätte. Das gilt auch für das Ziel Europa, das auf die im Gambia-Tal lebenden Menschen eine erhebliche Faszination ausübt, oder besser: ausgeübt hat.

Um es klar zu sagen: Es gibt sie nicht, die Millionen Afrikaner, die sich anschicken, in Europa einzufallen, wie Roberto Maroni, der ehemalige italienische Innenminister und heutige Chef der Lega Nord, fantasiert hat – vielleicht nachdem er eine Nacht lang Science-Fiction-Filme gesehen hatte. Wie bei jeder wichtigen Entscheidung eines Individuums wirken auch beim Entschluss, auszuwandern und ein Visum zu beantragen, viele teils geplante, teils ungeplante Einzelfaktoren zusammen. Allerdings gibt es nicht viele Gambier, die sich die Chance, ein Schengenvisum zu erlangen, entgehen lassen würden; und sei es nur, um sich in Europa umzusehen, bevor sie entscheiden, ob sie dort bleiben oder zurückukehren wollen. Viele ganz normale Jugendliche wollen diese Chance einfach deshalb, weil sie den Traum von einem künftigen Leben haben, das nicht so hart und unberechenbar ist wie das ihre im Dorf oder in der Stadt.

Dass für junger Afrikaner auf dem Weg nach Europa der Status von „Illegalen“ eine furchtbare Last ist, wissen EU-Politiker sehr genau. Trotz der symbolträchtigen Bilder vollgestopfter Flüchtlingsboote, die die europäische Abschottungsstrategie untermauern, fallen die meisten illegalen MigrantInnen der EU unter eine andere Kategorie: Sie sind zunächst auf legalem Wege eingereist, haben dann aber ihre Aufenthaltsdauer überzogen oder ihr Aufenthaltsrecht aus anderen Gründen verloren. Auf diese Entwicklung haben die Schengenstaaten seit den 1990er Jahren mit zwei Maßnahmen reagiert: Zum einen schränkten sie die Visavergabe noch weiter ein, zum anderen entwickelten sie ein raffiniertes Kontrollsystem, um „verdächtige“ Antragsteller – in der Bürokratensprache: Personen mit „hohem Risiko illegaler Migration“ – besser identifizieren zu können.

Macht und Misstrauen der Konsularbeamten

Heute stehen die meisten afrikanischen Staaten auf einer schwarzen Liste, was bedeutet, dass ihre Bürger für die Einreise in den Schengenraum nicht nur ein Visum benötigen, sondern bei einem Antrag selbst auf ein kurzzeitiges Besuchervisum eine ganze Reihe zusätzlicher Dokumente und finanzieller Garantien einreichen müssen. Unter anderem müssen sie den Zweck der Reise belegen und nachweisen, dass sie für ihr Gastland kein finanzielles oder anderweitiges Risiken darstellen. Und vor allem müssen sie belegen, dass sie die Absicht haben, nach Ablauf der gewährten Aufenthaltsfrist wieder in ihr Land zurückzukehren.

Das alles sind keineswegs nur Formalitäten. Bei der Entscheidung über die Erteilung von Visa haben die zuständigen Konsularbeamten einen beträchtlichen Ermessensspielraum. Und in aller Regel sind die Interviews mit den Antragstellern von grundsätzlichem Misstrauen geprägt, wobei die Beamten darauf aus sind, betrügerische Angaben in den eingereichten Dokumenten und Widersprüche in der Darlegung der Reisegründe aufzudecken. Das Visum kann jederzeit ohne Angabe von Gründen verweigert werden. Kurz: Die ganze langwierige bürokratische Prozedur fungiert als wirtschaftlicher, politischer und kultureller Filter.

Die Vergabe von Visa – nicht nur für den Schengenraum – ist ein so kostspieliges und so intransparentes Verfahren, dass jüngere, weniger gebildete und ärmere Antragsteller, die wenig Erfahrung mit modernen Bürokratien besitzen – also die, die im Schengen-Abschottungsjargon ein „hohes Risiko“ darstellen –, kaum eine Chance haben, sich das Recht auf Reisen zu verschaffen oder auch nur einen entsprechenden Antrag zu stellen. Es ist offensichtlich, dass die große Mehrheit derjenigen, die vorübergehend oder endgültig nach Europa gelangen wollen, es nicht einmal bis zur Abgabe eines Visumantrags bringen.

Würden wir unsere Analyse auf diese bürokratische Ebene beschränken, wäre die Geschichte der sans-papiers nur eine von vielen, aus denen die globale Ungleichheit zusammengesetzt ist. In einer Welt, in der ständig von „freien Märkten“ die Rede ist und alles getan wird, um den freien Kapital- und Warenverkehr zu beschleunigen, werden große Teile der Bevölkerung des sogenannten globalen Südens daran gehindert, sich frei in der Welt zu bewegen. Und wenn sie es ohne amtliche Genehmigung doch tun, werden sie hart bestraft.[2]

Diese Janusköpfigkeit des neoliberalen Systems ist mehr als ein schockierendes Paradox. Sie ist vielmehr eine zentrale Bedingung für sein Funktionieren – und für die Wahrung der damit verbundenen Privilegien. Europa ist also – trotz des ökonomischen Absturzes und der politischen Stagnation – weiterhin auf dem besten Weg zu einer „gated community“, die immer mehr Gelder in die Verstärkung ihrer Grenzen investiert.[3]

Aber Visa sind nicht nur ein Sinnbild für die Geopolitik der Mobilität, die sich durch extreme Ungleichheit auszeichnet. In Westafrika haben sie für die Gesamtgesellschaft eine viel umfassendere Bedeutung. Angesichts der Vergabeprozeduren muss der potenzielle Reisende eine oder mehr Personen als Helfer oder Bürgen gewinnen, wenn er auch nur die geringste Chance auf ein Schengenvisum haben will.

Bleiben wir in Gambia. Hier sind die meisten jungen Leute arbeitslos oder unterbeschäftigt; und selbst von denen, die einen Job haben, besitzen viele keinen Arbeitsvertrag; auch von den vielen kleinen Straßenhändlern haben keineswegs alle einen Gewerbeschein. Entsprechend verfügen nur wenige über ein Bankkonto, und noch weniger über größere Guthaben. Wie soll also der Antragsteller beim Konsulat eines Schengenstaats einen Gehaltsnachweis, Bankauszüge oder Bescheinigungen eines Arbeitgebers vorlegen können, um seine Einkommensverhältnisse zu dokumentieren? Und dann sind da noch die Ausgaben: Um ein Visum auch nur zu beantragen, muss eine Gebühr von 60 Euro bezahlt, ein Hin- und Rückflugticket gekauft und eine Krankenversicherung abgeschlossen werden.

Wer auch noch auf die Hilfe von Mittelsmännern in einer Bank oder einer staatlichen Behörde angewiesen ist, um sich die ganzen erforderlichen Papiere zu besorgen, muss für einen solide begründeten Visumantrag schon ein paar tausend Euro veranschlagen. In der Praxis bedeutet dies, dass man einen Helfer braucht, der bereits im Schengenbereich lebt. In der Regel sind das Verwandte oder enge Freunde, seltener auch Organisationen oder europäische Freunde respektive Ehepartner. Diese Helfer können die Erfolgsaussichten von Visumanträgen für ein Schengenland – oder ein anderes begehrtes Reiseziel – beträchtlich erhöhen, indem sie etwa Geld schicken, einen Einladungsbrief verfassen, eine Bürgschaftserklärung für mögliche finanzielle Auslagen unterzeichnen oder Kontakte mit möglichen Arbeitgebern herstellen.

Um den Anspruch auf legale Einreise auch nur geltend zu machen, ist der Visumkandidat also auf die Unterstützung von Freunden und Verwandten angewiesen. Aber sie zu bekommen ist, wie der Visumantrag selbst, ein schwieriges Unterfangen, das häufig zu Missverständnissen und Frustrationen führt. Es stimmt zwar, dass die Großfamilien in Gambia noch immer – und trotz rapide zunehmender ökonomischer und politischer Unsicherheit – durch eine starkes Grundgefühl von Autorität und Solidarität zusammengehalten werden. In einer Familie, von der einzelne Mitglieder schon seit ein, zwei Generationen im Ausland leben, sind die Chancen ganz gut (vor allem für einen jungen Mann), dass einer der emigrierten Verwandten die Einreise in das betreffende Land unterstützt.

Diese Hilfe gibt es aber nicht umsonst. Ein junger Mann, der sie anfordert, ist den Regeln und Hierarchien der erweiterten Familie noch stärker unterworfen. Er muss sich als gehorsamer Sohn und jüngerer Bruder erweisen und seine Fähigkeiten zeigen, zum Unterhalt der gesamten Familie beizutragen – was unter den ökonomischen Bedingungen Gambias schwierig ist.

Hilfe und Druck von der Familie

Hinzu kommt, dass in jeder Familie viele Bewerber um den Migrationsauftrag konkurrieren. Das führt häufig zu offenen oder verdeckten Konflikten zwischen den einzelnen Zweigen eines erweiterten Familienverbands, die jeweils ihren Kandidaten „durchbringen“ wollen. In Gambia ist die Klage, dass ein Migrationskandidat von dieser oder jener Fraktion der Familie im Stich gelassen oder vernachlässigt wurde, nachgerade zum Leitmotiv von Familienfehden geworden.

Damit geraten junge Leute, die sich um ein Visum bemühen, oft in die Zwickmühle. Einerseits müssen sie sich gegenüber ihrer erweiterten Familie als gehorsam und zielstrebig darstellen, damit sie nicht ihren guten Ruf und damit die Chance auf Beistand verspielen. Andererseits können sie nie ganz sicher sein, ob sich die Verwandten tatsächlich für ihre Sache einsetzen. Die Verwandten sagen ihnen, Visa und all die anderen Dokumente seien nun einmal nicht so leicht zu beschaffen. Die jungen Leute wissen natürlich, dass das Bewilligungsverfahren höchst komplex und ein Erfolg im Grunde unberechenbar ist. Aber da sie Freunde und Familienmitglieder kennen, die es zu einem Visum gebracht haben, fragen sie sich ständig, ob die Verwandten sich ehrlich für sie bemühen oder ob sie nicht vielleicht ein doppeltes Spiel treiben.

Anders formuliert: Das Visum vermittelt also eine Beziehung nicht nur zwischen dem Migranten und dem um Einreise ersuchten Staat, sondern auch zwischen dem Migranten und dessen Verwandten und Freunden. Und da die meisten der jungen Leute, die ein Visum erlangen wollen, es nicht einmal bis zur Antragsabgabe schaffen, verwundert es kaum, dass die meisten verhinderten Migranten ihre Frustration gegen die Verwandtschaft richten – und nicht gegen das Konsulatspersonal oder die Institutionen und Politiker, die für das herrschende Mobilitätsregime verantwortlich sind.

Auf diese Weise werden die rechtlichen und politischen Mechanismen, die der ungleichen Verteilung des Rechts auf freies Reisen zugrunde liegen, unsichtbar: Paradoxer- und perverserweise werden sie mit Problemen und Konflikten in den persönlichen Beziehungen der Visumbewerber verwoben und können im Extremfall das Verhältnis zwischen nahen Verwandten vergiften. Dies sind die tatsächlich „undokumentierten“ Nöte der Menschen ohne Papiere in Westafrika, von denen die europäische Öffentlichkeit nichts weiß und nichts hören will.

Fußnoten:

1Die Entwicklung zum „Schengenraum“ und die Strategie der EU, „undokumentierte Migranten“ von Europa fernzuhalten, beschreibt Bernd Kasparek: „Von Schengen nach Lampedusa, Ceuta und Piräus – Grenzpolitiken der Europäischen Union“, in: „Europas Grenzen“, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 47/2013, herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung.

2Zu diesem „Grundwiderspruch der Globalisierungslehre“, dass grenzenlose Mobilität für Waren und Geld, nicht aber für menschliche Arbeitskraft gilt, siehe Niels Kadritzke, „Migrationsblockaden und Kapitalströme“, Le Monde diplomatique, September 2002.

3Siehe Henk van Houtum und Roos Pijpers, „The European Union as a Gated Community: The Two-faced Border and Immigration Regime of the EU“, in: Antipode, 39(2), 2007, S. 291–309.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Paolo Gaibazzi ist Forscher am Zentrum für den Modernen Orient, Berlin. Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Paolo Gaibazzi im Rahmen der öffentlichen Ringvorlesung „Afrika: Identität der nächsten Generation“ am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin gehalten hat. Das komplette Programm: www.osi-club.de/Afrika.

© Paolo Gaibazzi; für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin