Wo die Steine auf der Wiese wachsen

Yasmine Kassaris Spielfilm „L’enfant endormi“ interessiert die allein gelassenen Frauen der Arbeitsmigranten

Schon die erste Szene zeichnet ein widersprüchliches Bild von den Verhältnissen zwischen Männern und Frauen in einer islamisch geprägten Gesellschaft: Zeinab (Mounia Osfour), die Braut, sitzt in einem geschlossenen Raum und sieht durch ihren Schleier nur andere verschleierte Frauen. Während die Männer draußen miteinander tanzen, darf Zeinab sich nicht bewegen, so verlangt es die Tradition. „Geht nicht, bin beschäftigt“, lautet hingegen die Antwort von Halima (Rachida Brakni) auf die Bitte ihres Mannes, ihm den Sohn vom Arm zu nehmen. Das sollen andere erledigen, sie muss sich um die Hochzeit ihrer Freundin kümmern. Die eilig angesetzte Heirat dient der Absicherung gegen eine ungewisse Zukunft: nicht die der Frau, sondern die des Mannes.

Wie beinahe alle anderen Männer der Gegend wird er am nächsten Tag einen roten Lastwagen besteigen, der ihn zur Küste bringt. Von dort wird er die gefährliche Reise von Marokko über See nach Spanien antreten. Arbeit winkt nur dort – aber sicher ist das nicht. Sicher ist nur, dass er als Bräutigam immer zurückkommen kann, weil er so einen festen Platz in der Gemeinschaft hat: ein Haus und eine Frau, die seinen Namen trägt und auf ihn wartet.

In ihrem Dokumentarfilm „Les hommes qui pleurent“ folgte die Regisseurin Yasmine Kassari noch den Männern auf ihrem Weg in ein fremdes Land, im Kampf um Brot und Lohn. Jetzt erzählt sie in einem Spielfilm die Geschichte der Frauen, die im Nordosten Marokkos ausharren müssen, in einer Gegend, die die Trockenheit vor Jahrzehnten eigentlich schon unbewohnbar machte. Nur vereinzelt noch trotzen hier niedrige Häuser einer Ödnis, die einmal fruchtbares Land war. Mit dem Abschied der Männer beginnt für die Frauen die lange Zeit des Wartens auf Rückkehr oder wenigstens eine Nachricht aus der Ferne. Detailliert berichtet der Film, wie die Zurückgebliebenen täglich am Überleben arbeiten: Brennholz sammeln, Getreide ernten, waschen und trocknen, die Schafe auf eine Wiese führen, auf der nur Steine wachsen.

Bemerkenswert, wie der Film die Fülle der alltäglichen Besorgungen nimmt, um die Leere drum herum umso deutlicher spürbar werden zu lassen. Alles verliert sich in der Weite der Landschaft: Häuser, Menschen, Hoffnungen. In der Abwesenheit der Männer treten aber auch die Freiräume der Frauen zutage: Selbstbewusstsein und Entschlossenheit sind alles – aber auch nichts Geringeres –, was sie der Ödnis und dem Warten entgegensetzen können. Der sporadisch wiederkehrende rote Lastwagen, erst Zeichen der Hoffnung, wird zur dauernden Enttäuschung.

Zeinab, die schwanger ist, beschließt, in die Stadt zu fahren, um dort bei einem Heiler ihr ungeborenes Kind „einschlafen“ zu lassen, bis der Vater zurückkehrt. Allmählich wird jedoch alles weniger: Die Mutter stirbt, die rebellische Halima kehrt zu ihren Eltern zurück. Aber für alles, was verloren geht, wird etwas anderes gegeben: Trauer und Lebensfreude, Moderne und Tradition sind auf seltsame Weise verquickt in diesem Film über Emigration aus der Sicht derjenigen, die geblieben sind. DIETMAR KAMMERER

„Das schlafende Kind“ („L’enfant endormi“). Regie: Yasmine Kassari. Marokko/Belgien 2004, 95 Min., in den Kinos Acud und fsk