berliner szenen Zwei Seiten, eine Zeit

Sechs Uhr zwei

Vor Wulfs Bäckerei am Herrmannplatz sitzen drei Herren mittleren Alters und prosten mir mit ihren Kaffeebechern zu. Sie sehen gemütlich aus und gucken auch ganz zufrieden. Ich winke. Es ist sechs Uhr zwei und schon hell. Wenn ich um diese Zeit vom Feiern komme, erwarte ich, dass es hell ist. Nicht aber, wenn ich um diese Uhrzeit zur Arbeit gehe. Und genau das tue ich heute: zur Arbeit gehen um sechs Uhr morgens.

Es ist neu für mich auf dieser Seite von sechs Uhr morgens zu stehen. Auf der „Ich bin frisch geduscht und der Tag kann beginnen“-Seite. Die andere Seite mit ihrem „Ich komme gerade nach Hause und schaffe meinen Döner nicht mehr, aber ein frisches Bier aufmachen wäre gut“, die kenne ich dagegen zur Genüge. Natürlich haben beide ihre Vor- und Nachteile. Auf der Nachtseite zum Beispiel ist man vielleicht noch nicht ganz so klar im Kopf wie auf der Tagseite; aber dafür hat man dort auch noch keinen Kater.

Dafür ist hier und jetzt die Wahrnehmung viel schärfer. An der Hauswand neben Wulfs Bäckerei hängt ein altes Neonschild, das Wulfs Möbel anpreist. Im Prenzlauer Berg kenne ich ein Fahrradgeschäft in der Kopenhagenerstraße, das so heißt, und neulich erzählt mir eine Freundin von einem Professor mit dem Namen Wulf. Ob die alle etwas miteinander zu tun haben?

Weiter hinten sieht man die Luftfeuchtigkeit über der Hasenheide. Bei kaltem Wetter wäre das Nebel. Aber es ist ja Sommer, auf dieser Seite von sechs Uhr morgens. Zugeprostet wird einem, wie es scheint, auf beiden Seiten der Zeit. „Und jetzt husch, husch zur Arbeit“, ruft mir der Grauhaarige mit Schnurbart und Brille zu. Er hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit Peter Lustig.

MAREIKE BARMEYER