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Archiv-Artikel

90 minuten ... in warschau

Aus Fenstern hängen polnische Flaggen, schlaff

Die Marczalkowska, sechsspurige Hauptachse durch das nach dem Krieg wieder aufgebaute Warschau: ein Streifen Stille. Einzelne Autos rasen dahin, die wenigen Menschen, die es auf die Straße treibt, schweigen, als müssten Wutanfälle unterdrückt werden. Zwei Stunden zuvor an diesem späten Freitagabend in einer Filiale des Sphinx, einer Restaurantkette der kleinbürgerlichen Art, man isst dort Pizza wie Steak, Fritten dazu oder Reis. Mächtig alle Gerichte, nahrhaft – ein gastronomischer Stern, der auf Menschen setzt, die Hunger ernsthaft kannten, also immer satt werden möchten.

Eine Ecke dieses Lokals ist zur WM-Zone erklärt worden, mit einem Fernseher als Zentrum. Anpfiff 21 Uhr. Man hört zunächst nichts, dann wieder nichts, die Wogen des Spiels, das die polnische Elf in diesen Minuten in Deutschland bei ihrem Turnierdebüt, sind über den Geräuschpegel hier, in der Heimat, nicht zu dechiffrieren. Die Ruhe, aus der noch jedes Geschirrklappern heraussticht, könnte zweierlei bedeuten: Man bangt um seine Mannschaft und weiß doch um ihre begrenzten Mittel, ihrer weiß man sich jedoch sicher – oder man versteht just nicht, warum gegen dieses gottverdammte Land namens Ecuador kein Ankommen ist.

Dann ein Schrei. Aus mindestens 30 Mündern. Ein Tor, das steht fest. Aber die Ruhe kehrt zurück. Später noch ein Brüllen, mächtiger noch, ein Deutscher sagt, so stelle er sich einen Hirschen vor, der seinen Tod vor Augen hat nach zwei Kugeln im Leib. Eine Stunde vor Mitternacht, die Partie muss abgepfiffen worden sein. Die Marczalkowska ebenso ausgestorben wie am frühen Abend. Aus Fenstern hängen polnische Flaggen, schlaff. „Immer muss Polen verlieren“, sagt ein Mann in einem leer gefegten Straßencafé, ach, es ist ein Jammer, Warschau scheint eine einsame Stadt.

Anderntags die Zeitungen, die sich einig sind im Ton: „Die WM ist verloren“, man könnte einpacken und sich schämen. Im Fernsehen, in den Sondersendungen zur WM, sehen die Männer traurig aus, auf TVN, der populärsten TV-Station jenseits des Staatsfernsehens, erörtern geschockte Menschen das Entsetzliche. Immer wieder hört man den Namen des Nationaltrainers heraus, ein Experte verzieht angewidert die Miene.

Der Samstag in Warschau sieht aus, wie ein solcher Tag dort sommers aussehen soll. Menschen kaufen ein, Kinder bekommen ein Eis, auf dem Markt deckt man sich für den Grillabend ein. Keine WM-Begeisterung, nirgendwo. Manche haben an den Hochhausplattenbauten noch ihre Fenster polnisch geschmückt, aber die Luft schmeckt nicht nach Selbstbewusstsein, nach protziger Gewissheit, die Vorrunde zu packen. Wie in Deutschland, Autos an den Hecks mit einem Nationalwimpel versehen sind, das ist nicht zu sehen. Polen muss, das darf als Bild genommen werden, mit erschütterten Gefühlen schon zum WM-Turnier angereist sein.

Neulich starb jener Nationaltrainer, der Polen 1972 zum Olympiagold und 1973 zum dritten WM-Platz in Deutschland geführt hat. Man wird es wohl als Zeichen genommen haben. Kein Lato, keine Lichtgestalt im Kader, niemals wieder? „Gegen Deutschland gibt es für uns nichts zu holen. Freut euch“, sagt ein Polizist, der den prallen Verkehr auf der Marczalkowska nicht aus dem Blick verlieren darf, „wir sind eine schwache Nation.“ Die letzten Worte gibt er in einem Ton preis, als schäme er sich seiner Traurigkeit, wendet sich ab und guckt auf die Ampel, die gerade auf Rot umschaltete.

JAN FEDDERSEN