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Archiv-Artikel

Zum Bier trinken nach Flandern

TRINKKULTUR „Wen Bier hindert, der trinkt es falsch“, meint Gottfried Benn. Unser Autor sinniert über vergorenes Getreide

Braukunst

■  Belgien ist das Land der Biere. Über 500 Biersorten stehen zum probieren bereit. Die Brauereien verteilen sich über das gesamte Land und bieten neben dem Verkauf auch Besichtigungen an. Erklärt wird die Braukunst in den flämischen Biermuseen. Tourismus Flandern-Brüssel, Cäcilienstr. 46, 50667 Köln, Tel.: +49-(0) 221-270 97 70, info@flandern.com

■  Stadtbrauerei Gruut, Grote Huidevettershoek 10, 9000 Gent, Tel: +32-(9) 269 02 69, nicki@gruut.be

■  Brauerei Liefmans, Aalstraat 200, 9700 Oudenaarde,Tel: +32-(0) 38 60 94 00, info@liefmans.be

■  Brauerei Roman, Hauwaart 105, 9700 Oudenaarde, Tel.: 00 32-(0) 55/45 54 01, globe@roam.be

VON HELMUT HÖGE

Es gibt eine Theorie, wonach das Getreide anfänglich nicht zu Brot verbacken, sondern zu Bier verbraut wurde – vor 10.000 Jahren in einigen reichen jordanischen Dörfern. Eine andere Theorie, die sich auf Funde in einem armen chinesischen Dorf stützt, kommt seltsamerweise zu dem selben Ergebnis, weil es nämlich vernünftig sei, „bei ständig knappen Ressourcen energiereichen Zucker und Alkohol in sich hineinlaufen zu lassen“.

Eine dritte These, die sich auf die Region Flandern in Belgien stützt, wo man noch heute über 500 Biere braut, könnte da lauten: Dass man über gemeinschaftsstiftende Gelage eher als mit Brot für sich und die Welt aus der Armut herausfindet. Schon bei Bertolt Brecht kommt in „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ die Dialektik mittels Alkohol in Fluss. Brecht nimmt dabei den Hegel’schen Begriff der „Flüssigkeit“ wörtlich. Laut dem Philosophen Dieter Kraft gewinnt er dadurch eine ermutigende Botschaft: „Die Verhältnisse sind zwar dreckig, aber eigentlich kann man sie schon mit Kutscherschnaps wegspülen.“

Um 1400 gehörte Flandern zu den Produktionszentren der Textilindustrie, in denen das Kaufmannskapital zur Bildung von Stadtgemeinden führte. Und während dort eine Mehrheit der Handwerker zu Arbeitern herabsank, gelang einer Minderheit der Aufstieg zu „experimentierenden Meistern“ und schließlich zu Ingenieuren und Künstlern. Allein 140 „Flämische Maler“ zählt Wikipedia auf.

80 Jahre kämpften die dortigen Bauern und Bürger dann um ihre politische Autonomie. In Charles de Costers Epos des flämischen Freiheitskampfs gegen die spanische Herrschaft „Tyll Ulenspiegel“ geht es aber auch darum, dass die beiden Helden sich kreuz und quer durch Flandern essen und trinken. Jedes Dorf hatte seine Spezialitäten. Und damals war bereits bekannt, dass man Lebensmittel nicht weiter als eine Tagesreise von ihrem Herstellungsort wegschleppen darf, wenn sie ihren Geschmack behalten sollen. Das gilt auch für Bier. Ein flandrischer Braumeister versicherte uns, das ein in Gent gebrautes Bier anders schmeckt, als wenn man es in Brüssel herstellen würde, weil dabei andere Pilze und Bakterien mitwirken.

Als wir in der alten Universitätsstadt Gent ankamen, hatten die Bürger wegen der „Klimaerwärmung“ gerade beschlossen, an einem Tag in der Woche kein Fleisch mehr zu essen – um die Treibhausgasemissionen, die auf das Konto der Rinderzucht gehen, zu reduzieren. Man ist mit diesem „Entschluss“ quasi am anderen Ende der Wohlstandsspirale angekommen: Anfänglich war es in der Stadt noch primär darum gegangen, sich wenigstens einmal in der Woche Fleisch leisten zu können. Die Arbeiter in den Genter Textilfabriken und Brauereien mussten hart darum kämpfen. Das große Gebäude der Sozialisten im Stadtzentrum zeugt bis heute davon. Aus ihren Fabriken wurden jedoch längst Museen, Einkaufspassagen und Büros.

Wir besuchten als Erstes die neue „Stadtbrauerei Gruut“ am Ufer der Leie. Hier wird nicht mit Hopfen, sondern mit einer Kräutermixtur (Grut) gebraut. Im 13. Jahrhundert teilte der Fluss die Stadt in eine französische und eine deutsche Hälfte. Auf der östlichen Seite durften die Braumeister nur Hopfen, auf der westlichen nur Grut verwenden. Heute arbeitet hier eine Braumeisterin, Annick de Splenter, die uns „Gruut Blond“ zapfte. Während der anschließenden „Bierwanderung durch Genter Kneipen“ fanden wir zum gehopften Bier zurück. In den nächsten Tagen lernten wir noch „Kirschbier“ und süßsaures „Dark Bier“ sowie diverse Trappisten- und Abteibiere kennen. Letztere in der Benediktinerabtei Affligem. Die 18 dort lebenden Mönche haben ihre Brauerei jedoch an den holländischen Heineken-Konzern verkauft.

Die Trappistenbiere werden dagegen noch immer unter Aufsicht von Mönchen gebraut. Ein Großteil ihrer Gewinne aus dem Verkauf muss für soziale Zwecke verwendet werden. Ob dazu auch Alkoholentzugskliniken gehören, konnten wir nicht rausbekommen. Dafür entdeckten wir in den Kneipen verschiedene „Bierrituale“ und in den Restaurants viele Speisen, die mit Bier zubereitet werden. Bei „Liefmans“ in Oudenaarde an der Schelde erwartete uns die älteste Braumeisterin Belgiens: Rosa Merckx. Bei ihr kosteten wir neben warmem „Glühbier“ mehrere Biere, die mit Milchsäurebakterien fermentiert werden – weswegen sie immer am selben Standort gebraut werden müssen. Die in der Flasche nachgegorenen „Liefmans“-Biere werden wie Sektflaschen verkorkt.

Auf der östlichen Seite durften die Brau- meister nur Hopfen, auf der westlichen nur Grut verwenden

In Oudenaarde wurde 1606 der Maler Adriaen Brouwer geboren. Er malte ausschließlich Szenen aus dem Bauern- und Wirtshausleben, dem er auch persönlich sehr zugetan war. Wir tranken hier ein „Adriaantje“ auf den Maler, nachdem wir dort auch noch die Brauerei Roman besichtigt hatten. Sie ist seit 1545 in Familienbesitz, wir probierten ihre Marken „Ename Double“, „Triple“ und „Blond“ sowie das Bier „Sloeber“ – so nennt man einen Genießer, „der vom Leben (anderer) profitiert“. „Triple“-Biere können einen Alkoholgehalt bis zu 9,5 Prozent haben, ihre Beliebtheit wird mit dem Mönchsleben erklärt: „Sie brauten das dunkle Starkbier im Winter – während der Fastenzeit, weil es nahrhafter ist, und im Sommer dann blondes.“ Daneben kennt man in Flandern auch noch „Endjahresbiere“ – mit einem doppelten Hopfenanteil, was sie extrem bitter macht. In einer der Genter Kneipen probierten wir außerdem ein perlendes „Geuze“. Es wird aus verschiedenen Jahrgängen des „Lambiek“-Biers hergestellt – was ein durch Spontangärung entstandenes Weizenbier ist. Es zählt zu den ältesten der Welt. Die Geschmacksbildner sind hierbei zwei Hefepilze, die nur in der Gegend um Brüssel vorkommen.

Die Bierkultur entstand in Flandern mit den Klosterbrauereien. Noch heute unterscheidet man Biere, „die man innerhalb der Klostermauern braut, von denen, die außerhalb gebraut werden“. Beim Abendmahl verwandeln die Mönche und Priester Brot und Wein in das Blut und den Leib Christi. Diese sogenannte Transsubstantiation hat eine andere „Wesensverwandlung“ zur Voraussetzung: die von Getreidekörner in Brot (bzw. in Bier) und die von Trauben in Wein.

Flandern ist ein Bierland und ein katholisches Land. Kann es mithin sein, dass die eine Transsubstantiation nicht ohne die andere zu haben ist? Also dass die erste Transsubstantiation, wenn man ihr Endprodukt genießt (trinkt), empfänglich macht für die zweite, dass man also vulgär ausgedrückt erst besoffen sein, das heißt als Bevölkerung die massenhafte Erfahrung von Trunkenheit gemacht haben muss, um die Verwandlung eines alkoholhaltigen Getränks in das Blut des Herrn zu akzeptieren.