Das ist Dida!

Er ist Brasiliens Nummer 1. Er ist der erste schwarze Torhüter seit der WM 1950, als Brasilien den Titel gegen Uruguay verlor. Er kann nach dem Rolemodel Pelé den neuen Durchbruch bringen – wenn er Weltmeister wird

VON ALEX BELLOS

Jeder liebt Brasilien. Okay, abgesehen von Argentinien vielleicht. Brasilien lieben heißt den Fußball lieben, weil Brasilien den schönsten und artistischsten Fußball repräsentiert, den die Welt kennt.

Es ist ein mächtiger, globaler Mythos, der mindestens aus der Pelé-Ära stammt und kontinuierlich bestärkt wird. Aber pandemische Brasilophilie hat andere Gründe. Es ist die Bewunderung einer lächelnden Rasse, einer, die gut drauf ist, deren Frauen alle wunderschön sind und in der Regel halbnackt, und deren Leben ein einziger, großer Karneval ist.

Von all den politischen Signalen, die Brasilien aussendet, ist das offensichtlichste das der Rassenharmonie. Brasilien, das heute gegen Kroatien spielt (21 Uhr), hat ja nicht nur weiße und schwarze Spieler, sondern auch jeder Farbe dazwischen.

1958 war Brasilien das erste multirassische Team, das die WM gewann. Der einzige andere WM-Gewinner mit einer Vielfalt an Farben ist Frankreich (1998). Doch in Frankreichs Fall lag es an der künstlichen Immigration aus den Ex-Kolonien, nicht an der Rassenmischung.

Brasilien hat den Ruf der Rassentoleranz, oft verknüpft mit der Pro-Rassenmischung-These, die in den 1930ern von dem Soziologen Gilberto Freyre verbreitet wurde. Und das ist vermutlich eines der größten Missverständnisse. Es stimmt, dass die Rassenfrage in Brasilien sich stark von jener in den USA oder Europa unterscheidet. Dass die afrobrasilianische Kultur viel stärker akzeptiert und gefeiert wird als die afroamerikanische Kultur in den USA. Demokratie ist das trotzdem nicht.

Statistiken bringen das zutage. Schwarze verdienen in Brasilien viel weniger als Weiße, und zwar 50 Prozent laut einem UNO-Bericht. Afrobrasilianer stellen fast die Hälfte von Brasiliens 180 Millionen Einwohnern, aber 63 Prozent der Armen. Das Fehlen gleicher Chancen ist offensichtlich, wenn man durch eine beliebige Stadt fährt. Je ärmer, desto schwärzer.

Vor allem schockiert die Ausbeutung von Hausmädchen durch die Mittelklasse. Besserverdienende Familien sind fast alle weiß und haben schwarze Hausmädchen. Diese Hausmädchen arbeiten fast rund um die Uhr für wenig mehr als den Mindestlohn. In der Regel dürfen sie nicht an einem Tisch mit den Weißen essen. Sie leben in winzigen, fensterlosen Bereichen im hinteren Teil des Hauses. Ganz so, als sei die Sklaverei nie abgeschafft worden.

Sie wurde selbstverständlich abgeschafft. 1888, das ist mehr als ein Jahrhundert her. Aber das war später als in jedem anderen Land im Westen. Die weiße Elite hat sich eine Sklavenhalter-Mentalität bewahrt, das soziopolitische Profil des Landes hat sich seit der Kolonialzeit dementsprechend kaum verändert.

Als Freyre anfing, die Rassenmischung des Landes zu bewerten, benutzte er Fußball als Beispiel. Freyre sagte, dass die Rassenmischung Brasiliens einzigartigen Charakter hervorgebracht habe, die Schläue, die Musikalität und Kreativität, welche wunderbar ausgedrückt werde im Spiel der Nationalmannschaft. Die Metapher war perfekt, da die Nationalmannschaft aus Spielern unterschiedlicher Hautfarben bestand und ihr Markenzeichen Artistik und Extravaganz war.

Die Metapher wurde besondern wichtig, nachdem dieser Fußballstil anfing, die Welt zu beeindrucken. Das war, als bei der WM 1938 Leonidas da Silva zum besten Spieler gewählt wurde. Fußball wurde unentwirrbar verknüpft mit der nationalen Identität. Das motivierte Brasilien, Weltmeister zu werden.

Dennoch wäre es naiv zu behaupten, dass es keinen Rassismus im brasilianischen Fußball gäbe. Das wird besonders deutlich bei dem vorherrschenden Vorurteil, Schwarze seien keine guten Torhüter.

Die Angst vor dem schwarzen Torwart hat einen Präzedenzfall: Es ist das „verhängnisvolle Finale“. Das Spiel, das als dunkelster Moment kollektiven Unglücks gilt. 1950 war Brasilien WM-Gastgeber. Im letzten Spiel des Turniers hätte ein Unentschieden gegen Uruguay genügt, um Weltmeister zu werden. Fast 200.000 drückten sich im Maracana-Stadion zusammen, um dabei zu sein. Brasilien war haushoher Favorit und ging sogar in Führung. Doch Uruguay glich aus, traf zwölf Minuten vor Ende erneut und war Weltmeister.

Ein Sieg hätte Brasiliens Platz in der Welt gestärkt. Die Niederlage verstärkte das Gefühl der Unterlegenheit. Das 1:2 fühlte sich an wie eine internationale Schande, und ein Mann wurde zum Sündenbock: Barbosa, der Torhüter, dem beim entscheidenden Gegentor ein Stellungsfehler unterlaufen war. Er wurde ein nationaler Sündenbock.

Barbosa war schwarz, wie auch die Verteidiger Juvenal und Bigode. Die Beschuldigungen gegen die drei waren durchtränkt von Rassismus. Dabei war 1950 als WM gedacht gewesen, die Brasiliens Mestizo-Kultur krönen würde.

Schwarze können vielleicht tricksen und Tore schießen – dem Stürmer Zinzinho etwa wurde keinerlei Schuld gegeben –, aber es wurde impliziert, dass sie nicht die moralische Stärke hätten, um Positionen mit echter Verantwortung zu bekleiden, also in der Verteidigung und im Tor. Nach der Befreiung durch Freyres Ideen, die den Glauben populär gemacht hatten, dass Rassenmischung etwas Gutes war, kam dies einem Rückfall in die Ideologie der Sklaven-Ära gleich, die tief in Brasiliens Psyche überlebt hatte.

Seit Barbosa ist die Nationalmannschaft nie mehr mit einem schwarzen Torwart als Nummer 1 zu einer WM gefahren. Schlimmer noch: Man erlaubt keinem Torhüter, das „verhängnisvolle Finale“ zu vergessen. Tatsächlich gibt es dieses Phänomen nicht nur in Brasilien. Auch in allen nicht-afrikanischen Ländern mit hohem Anteil schwarzer Profis gibt es relativ wenig schwarze Torhüter, etwa in Frankreich und England.

Dida könnte das alles ändern. Seit Carlos Alberto Parreira den Trainerjob übernahm, ist der Torhüter des AC Mailand seine Nummer 1. Dida, eigentlich Nelson de Jesus Silva, ist auch in anderer Hinsicht eine Besonderheit. Seit 1934 hatte Brasilien keinen Stammtorhüter bei einer WM, der mit seinem Spitznamen bekannt war.

Es ist ein spezielles Merkmal des brasilianischen Fußballs, dass die meisten Fußballer mit ihren Vor- oder Kosenamen bezeichnet werden. Es zeigt, dass es sich hier um herzliche und informelle Menschen handelt. Je weiter vorne die Spieler agieren, desto größer ist ihre Chance auf einen Kosenamen. Verteidiger haben seltener Spitznamen, Torhüter fast nie. Auch diese Praxis ist ein Relikt aus der Sklavenzeit, als der Kosename dazu diente, den Sklaven als Sklaven zu kennzeichnen.

In den 70ern und 80ern hießen die herausragenden Torhüter (Emerson) Leao und (Claudio) Taffarel, beides Nachnamen. Man fragt sich, ob der steifere Umgang mit Keepern möglicherweise daran liegt, dass sie weniger geliebt werden – oder daran, dass sie seltener schwarz sind?

Als Dida noch bei einem brasilianischen Klub spielte, hatte er den Ruf, einen kühlen Kopf zu haben, technisch brillant und ein Elfmetertöter zu sein. Mit Corinthians gewann er 2000 die erste Klub-WM. Doch beim AC Milan unterliefen ihm zunächst spektakuläre Fehler, bevor er sich fing. Im Champions-League-Finale 2005 kassierte er in der zweiten Hälfte drei Treffer und verlor das Elfmeterschießen.

Wenn Brasilien die WM 2006 gewinnt, wird Ronaldinho als Anführer in den Klub der Allergrößten aufsteigen, zur Rechten Pelés, Garrinchas und Maradonas. Aber wenn Brasilien mit einem schwarzen Torhüter den Pokal gewinnt, macht es einen echten Schritt in Richtung echter Rassendemokratie.

Pelé war Rollenmodell für alle Schwarzen. Dida kann den nächsten Durchbruch bringen. Nicht nur für Brasilien, sondern auch für die ganze Welt. Und eines Tages wird ein schwarzer Trainer die WM gewinnen.

ALEX BELLOS, 35, ist Brite und lebt in London und Rio de Janeiro. Er hat den Klassiker „Futebol“ über den brasilianischen Fußball geschrieben.