: Zwischen Orient und Mulackstraße
MÄRCHEN Die pseudoorientalische „Geschichte vom kleinen Muck“ feiert als (angeblich erfolgreichster) DEFA-Film dieses Jahr ihren 60. Geburtstag. Dafür bringt das Gorki Theater die Story ohne Pluderhosen und Schuhcreme-Schminke ins Heute
1825 veröffentlichte der 23-jährige Wilhelm Hauff im „Märchen-Almanach auf das Jahr 1826 für Söhne und Töchter gebildeter Stände“ die Geschichte vom „Kleinen Muck“, angelehnt an Märchen aus 1001 Nacht: Der bucklige Muck lebt bei seinem gütigen Vater, doch als dieser stirbt, wird er von raffgierigen Verwandten hinausgeworfen. Vorübergehend kommt er bei einer alten Katzenhalterin unter, doch als sie ihn schlecht behandelt, reißt er aus und nimmt von ihr magische Pantoffeln und Zauberstock mit: Die Pantoffeln lassen ihn schnell laufen, der Zauberstock zeigt ihm verstecktes Gold. Im Wettstreit besiegt er den schnellsten Läufer des Sultans und darf am Hof bleiben. Mit seinem Stock findet er Gold und will sich damit Freunde kaufen, doch die verraten ihn, und er wird verbannt. In der Verbannung findet er Feigen, die Eselsohren wachsen lassen. Er geht zurück und erteilt Sultan und Hofstaat eine Lektion. MGO
VON MALTE GÖBEL
1953 kam der bunte Orient ins graue Nachkriegsberlin: Am 23. Dezember feierte „Die Geschichte vom kleinen Muck“ im zum Palast aus Tausendundeiner Nacht umgestalteten Babylon-Kino Premiere, die Mitarbeiter trugen Turban und orientalische Tracht. Auf der Leinwand führte der 11-jährige Thomas Schmidt die Erwachsenen hinters Licht, als altkluger Außenseiter mit gebräuntem Gesicht. Für die Dreharbeiten hatte man in Babelsberg einen ganzen Palast gebaut, eine sozialistische Alhambra. Elefanten und Kamele zertrampelten grauen märkischen Sand, und ganz Potsdam hatte Katzen gespendet, um das Haus der Hexe zu bevölkern.
Der 100-minütige Märchenfilm gilt heute als erfolgreichster DEFA-Film überhaupt, wurde in 60 Ländern vor über 13 Millionen Zuschauer_innen gezeigt. Dieser Tage ist er bei Icestorm auf DVD und Blu-Ray erschienen, und am 23. Dezember zeigt das Babylon Mitte den Film um 16 Uhr in einem Jubiläumsscreening. Ob die Angestellten dann auch Pluderhosen tragen werden, ist unklar. Zumindest dürften sie nicht auf die Idee kommen, sich Schuhcreme ins Gesicht zu schmieren, um so andere Kulturen stilechter imitieren zu können. Kritik an Blackfacing gab es 1953 noch nicht, im Gegenteil verweist der Film in seinem Vorspann stolz auf zeitgenössische Schminktechniken, die sogar rote Bäckchen auf braune Kinderwangen zauberten: „Den Gesichtern der Schauspieler gaben Alois Strasser, Willi Roloff und Sabine Brodt das orientalische Aussehen.“ Aus heutiger Sicht wirken Tracht, Zierrat und Charaktere romantisierend exotistisch: Die Darstellung reproduziert nebenbei orientalistische Klischees, die ganze Generationen geprägt haben.
Dabei ist der „Kleine Muck“ vordergründig eine klassische sozialpolitische Außenseitergeschichte: Ein äußerlich „anderes“ Kind wird verstoßen und ausgebeutet, versucht sich mit Superfähigkeiten und Geschenken beliebt zu machen, erntet aber weiterhin nur Zurückweisung und Spott. Auch der abschließende Feigenstreich ist vor allem ein Denkzettel, er verschafft Muck eher Respekt als echte Freundschaft – sowohl in der Erzählgeschichte bei Hofe als auch in der Rahmenhandlung: Die Kinder, die ihn vorher gehänselt haben, geben ihm zwar distanzierte Wertschätzung, aber ein funktionierendes soziales Umfeld schafft er sich so nicht.
Selbstverständlich gibt es politische Untertöne in allen verschiedenen Interpretationen der Geschichte des kleinen Muck im Laufe der Jahrhunderte. Schon die ursprüngliche Version, veröffentlicht 1825 von dem jung verstorbenen Schriftsteller Wilhelm Hauff (1802–1827), enthält Kritik an herrschenden Verhältnissen. Indem er den Sultan als unfähigen Herrscher eines Ministaats darstellte, kritisierte Hauff die Kleinstaaterei im deutschen Bund. Er codierte revolutionäres Gedankengut, indem der Herrscher am Ende bestraft wird – Gerichtsbarkeit gilt für alle, unabhängig von Rang und Namen.
Die Filmversion von 1953 kann man ebenfalls zeitgenössisch interpretieren: Wenn die Kinder am Anfang den alten, bärtigen Muck verfolgen, weil er nicht dazugehört, kann man auch den Nazimob sehen, der einen Rabbi durch die Straßen jagt. Später porträtiert der Film spielerisch die Bürokratie und Korruption am Hofe des Sultans: Als der kleine Muck dort eindringt, muss die Nachricht erst vom Untersten Ramudschin zum Unteren, dann zum Oberen, dann zum Obersten gereicht werden, bevor dieser den Sultan verständigt. Umgekehrt lobt der Sultan beim Wettlauf einen Gewinn von sieben Goldstücken aus, die nach unten gereicht werden, bis beim Sieger nur noch eines ankommt: Geld verdirbt den Charakter.
2007 machte Schorsch Kamerun den „Kleinen Muck“ zur Post-WM-Taumel-Nationalismus-Überprüfungsrevue, es ging um Patriotismus und Leitkultur, um Kartoffeln und den Pankower Moscheenstreit, um Klischees und um das Fremdsein allgemein – provokant, aber fern der eigentlichen Story.
Und heute? Die Neuinszenierung des Gorki Theaters (22. 12., 15/18 Uhr) wirkt zeitweise wie ein auf die Bühne gebrachter Cartoon: Nur Muck und der Erzähler Direktor Donner alias der Sultan sind Menschen, die anderen Charaktere werden als Pappfiguren dargestellt, mit drei möglichen Gesichtsausdrücken – South Park lässt grüßen. Auch die Soundeffekte sind Cartoon-inspiriert (und live vor der Bühne eingespielt). So gewinnt der „Kleine Muck“ zeitgemäß an Tempo und Witz.
Die Verständlichkeit der Story leidet allerdings, zumal sie zusätzlich verschachtelt ist: Muck ist ein Besucher aus dem Publikum, der mitspielen will, obwohl er klein ist und Deutsch nur mit Akzent sprechen kann – Außenseiterstory reloaded. Immer wieder bricht er die Bühnenordnung, wirft Kulissen um und schubst Puppenspieler ins Sichtfeld. Das ist lustig für kleine ZuschauerInnen, aber auch verwirrend: Wer die Geschichte nicht vorher kannte, kann ihr nicht folgen.
Ohne Orientalismus kommt auch das Gorki nicht aus: Auf dem Plakat etwa hüpft Muck als Berberjunge in einen Sternenhimmel. Immerhin spielt die Rahmenhandlung nicht mehr im Orient, sondern in der Mulackstraße – warum nicht gleich die ganze Story? Und Theaterdirektor Donner weist wiederholt Schauspieler_innen zurecht, wenn sie diskriminierende Sprache verwenden: „Das ist überhaupt nicht pc, was ihr da macht!“