Unschuldig gefallen

UFER Im Jahr 2007 glaubte das Wasser- und Schifffahrtsamt in den Bäumen am Landwehrkanal eine Gefahr für Menschen zu erkennen – und ließ 38 fällen. Ein Gutachten belegt nun: Die Gefährdung war erfunden

Das Amt verschwieg, dass seine Prognose von Deich-Parametern ausging

VON SEBASTIAN HEISER

Sechs Jahre und sechs Monate hat es gedauert, bis das Wasser- und Schifffahrtsamt des Bundes auch schriftlich eingestanden hat, dass es im Jahr 2007 unnötig Panik verbreitete. Dass es Politik und Öffentlichkeit nicht die Wahrheit gesagt und 38 Bäume gefällt hat, die in Wirklichkeit nie eine Gefahr waren. Dass es keinen Grund dafür gab, wochenlang den Landwehrkanal für die Ausflugsdampfer zu sperrten und Arbeitsplätze zu gefährden.

Deshalb ist dieser eine Satz so bemerkenswert in dem Dokument, das die Behörde am Dienstag unterzeichnet hat: „Den Beteiligten im Mediationsverfahren ‚Zukunft Landwehrkanal‘ ist besonders wichtig festzuhalten, dass die Auswirkungen der Bäume auf die Ufermauern aus statischer Sicht als ‚neutral‘ bewertet worden sind.“

„Neutral“, man mag es kaum glauben. Dabei hatte das Amt die Bäume am Landwehrkanal vor sechseinhalb Jahren als große Gefahr dargestellt. Am 22. Mai 2007 verkündete Amtsleiter Hartmut Brockelmann: 200 Bäume müssen gefällt werden, „es geht um Gefahrenabwehr“.

Die Instandhaltung am Landwehrkanal war über Jahrzehnte völlig vernachlässigt worden. Das Amt schreckte auf, als im April 2007 am Maybachufer in Neukölln die Ufermauer auf 20 Metern einbrach. Am 9. Mai sackte in Höhe des Technik-Museums der Boden ab. Taucher machten sich auf die Suche nach den Ursachen: Die Kanalwände waren an vielen Stellen unterspült, Spundwände hatten sich verschoben, Steine fehlten.

Die Behörde trat daraufhin mit der Baum-These an die Öffentlichkeit. Das Gewicht der Bäume belaste die Ufermauern, die besonders einsturzgefährdet seien – und die Bäume könnten dann auf vorbeischippernde Ausflugsdampfer fallen und dutzende Menschen töten. „Wir müssen sofort und schnell handeln“, sagte Brockelmann. Innerhalb von zwei Wochen sollten die 200 Bäume fallen.

Heute weiß man: Die Baum-These war reine Fiktion. „Wir waren davon überzeugt, dass die Sicherheitsparameter sich genauso verhalten wie bei einem Deich“, sagt Amtssprecherin Evelyn Bodenmeier jetzt. Bei einem Deich gibt es einen ständigen Druck von der Wasser- auf die Landseite. Die Baumwurzeln durchlöchern die Erde und schaffen so Kanäle für das Wasser, der Deich verliert Stabilität. Im Jahr 2007 verschwieg das Amt, dass seine Prognose von Deich-Parametern ausging.

Alle fielen darauf rein. Zum Beispiel Charlottenburg-Wilmersdorfs damaliger Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler (CDU): „Wenn Gefahr in Verzug ist, weil Bäume auf Fahrgastschiffe stürzen könnten, dann müssen wir der Fällung zustimmen.“ Oder die damalige Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD): „Es muss gehandelt werden, weil Nichthandeln auch für die Gesundheit derjenigen, die sich auf den Wasser aufhalten, gefährlich sein könnte.“

Nur Friedrichshain-Kreuzberg blieb skeptisch. Der Bezirk verweigerte seine Zustimmung zur Fällung von drei Linden in der Nähe der Großbeerenbrücke.

Das Wasser- und Schifffahrtsamt sperrte den Landwehrkanal. Der Senat zog das Verfahren an sich, erlaubte die Fällung der Bäume. Doch als die Bauarbeiter mit ihren Motorsägen anrückten, formierte sich Protest von Bürgerinitiativen und des Naturschutzbundes. Rund 40 Personen stellten sich schützend vor die Bäume.

Die Bäume blieben stehen – und der Kanal gesperrt. „Das ist wirtschaftlich für uns mehr als fatal“ sagte Jürgen Loch, Geschäftsführer der Stern und Kreisschifffahrt. Mit Blick auf die gefährdeten Arbeitsplätze sagte er: „Das Wohl von 500 Familien hängt an drei Linden.“

Der Protest unter den Anwohnern wuchs. Das Wasser- und Schifffahrtsamt ging scheinbar auf die Forderung nach Verhandlungen ein. Am 5. Juli traf sich Behördenchef Brockelmann im Kreuzberger Rathaus mit dem Bezirk und Anwohnern. Nach 90 Minuten eröffnete er der verblüfften Runde, dass draußen gerade 22 Bäume gefällt werden.

200 Polizisten schützten die Bauarbeiter, der Protest rollte zu spät an. Das Wasser- und Schifffahrtsamt hatte diese Schlacht gewonnen – verspielte jedoch Vertrauen bei allen Gesprächspartnern. Der SPD-Abgeordnete Stefan Zackenfels forderte den Rücktritt des Amtschefs, der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz einen Mediator zur Konfliktlösung, da das Amt „mit der Wahrnehmung seiner Aufgaben überfordert“ sei. Rund 1.000 Demonstranten gingen auf die Straße, mehr als 20.000 Unterschriften kamen zusammen. Wenig später wurde Amtsleiter Brockelmann abberufen.

Der Kanal wurde nach wochenlanger Sperrung wieder für die Schifffahrt freigegeben. 38 Bäume waren bis dahin gefällt worden. Weitere 20 Bäume wurden mit acht Tonnen schweren Betonklötzen und Stahlseilen abgesichert, Kosten: 200.000 Euro.

Die Verhandlungen in der Mediationsrunde verliefen angesichts der vielen Beteiligten zäh. Am Tisch saßen Vertreter von mehr als 20 Institutionen: Bundesverkehrsministerium, Wasser- und Schifffahrtsamt des Bundes, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Landesdenkmalamt, fünf Bezirksämter, Reedereien, IHK, Naturschutzverbände, Bürgerinitiativen.

Die Bürger setzten im Verfahren durch, dass das Wasser- und Schifffahrtsamt ein Gutachten in Auftrag gibt, um die Baum-These zu prüfen. Das beauftragte Ingenieurbüro kommt auf Seite 78 zum Fazit: „Zusammenfassend verhalten sich die Bäume unseres Erachtens hinsichtlich der Böschungsstandsicherheit weitgehend neutral.“

Der jetzige Leiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes Martin Scholz räumt ein: „Aus heutiger Sicht basierten die Fällungen auf falschen Einschätzungen.“ Der ganze Bohei war also umsonst. Außer für die Reedereien. Nach Angaben des Geschäftsführers des Reederverbandes der Berliner Personenschifffahrt, Ingo Gersbeck, kostet jeder Tag Sperrung die Reedereien 60.000 Euro. Der entstandene Schaden durch das Wasser- und Schifffahrtsamt während der wochenlangen Kanalsperre ging in die Millionen. Davon erstattet das Amt den Unternehmen: 0 Euro.