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Archiv-Artikel

Fieber, Blasen, Kopfweh

Die körperliche Verfassung von Stürmerstar Ronaldo bewegt Brasiliens Gemüter. Die Anteilnahme an seinem Schicksal ist klassenübergreifend, er dient allen Schichten als Identifikationsfigur

AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER

Die Alarmglocken schrillen in Brasilien. Mit „SOS Ronaldo“ machte gestern die Tageszeitung O Globo auf und verkündete: Wie die Fans sorge sich auch das Trainerteam „wegen der Apathie“ des „Fenômeno“. Tags zuvor hatte Brasiliens renommiertester Fußballkolumnist Juca Kfouri die Stimmungslage der Nation auf den Punkt gebracht: Coach Carlos Alberto Parreira müsse „den Mut aufbringen und Ronaldo sagen, dass er noch eine Zeit lang trainieren muss, bevor er einen Stammplatz verdient hat“.

Genau diese Diskussion hatte Parreira gleich nach dem glanzlosen 1:0 gegen Kroatien im Keim ersticken wollen und angekündigt, Ronaldo werde am Sonntag gegen Australien wieder aufgestellt. Es wäre das 100. Länderspiel des 29-Jährigen. Nur auf dem Platz könne er zu seiner Glanzform zurückfinden, lautet Parreiras Mantra.

Doch nun ist das Gespenst von 1998 wieder da. Damals vor dem Finale gegen Frankreich erlitt Ronaldo einen Schwächeanfall, der bis heute rätselhaft ist. Er spielte trotzdem, war ein Totalausfall und die Gelb-Grünen gingen unter. Vier Jahre darauf wurde er jedoch zur Schlüsselfigur bei Brasiliens fünftem Titelgewinn.

Am Mittwoch war Ronaldo benommen und hatte Kopfschmerzen, doch eine Untersuchung in einer Frankfurter Klinik brachte keine neuen Erkenntnisse. Wie 1998 informierte der brasilianische Fußballverband verspätet, moniert die Presse. Erneut droht der Stürmerstar am enormen Erwartungsdruck zu zerbrechen.

Letzte Woche, bei einer 25-minütigen Konferenzschaltung in das Hotel der Seleção nach Königstein, machte Brasiliens prominentester Fan, Präsident Luíz Inácio Lula da Silva, klar, dass die Nation „einmütig“ den WM-Titel erwarte. Dann fragte er besorgt, ob Ronaldo nicht zu dick sei. Der Betroffene, der als Einziger nicht dabei war, gab tags darauf pikiert zurück, der Präsident sei wohl Opfer des Medienrummels geworden: „Alle sagen, dass er zu tief ins Glas schaut hat. Es ist eine Lüge, dass ich dick bin, genauso wie es wohl eine Lüge ist, dass er zu tief ins Glas schaut.“ Doch anders als Lulas vermeintliche Trinkfestigkeit ist Ronaldos physische und psychische Verfassung Gesprächsstoff im ganzen Land. Vor zehn Tagen waren es seine Blasen am linken Fuß, dann ein leichtes Fieber, nun das Kopfweh und sein Schweigen.

Fußball vermittle den Brasilianern eine seltene „Erfahrung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit“, erklärt der liberale Anthropologe Roberto DaMatta die klassenübergreifende Anteilnahme. Im Gegensatz zum „schwarzen Alltag“ zählten auf dem Spielfeld Leistung und gleiche Regeln für alle.

Die soziale Herkunft des hellhäutigen Mulatten Ronaldo Luíz Nazário de Lima aus Rio zudem erleichtert eine schichtenübergreifende Identifikation: Er stammt zwar aus einfachen Verhältnissen, aber zu den ausgegrenzten Millionen der Armenviertel zählte seine Familie nicht.