piwik no script img

Archiv-Artikel

Salatblätter vom Straßenrand

Geht es um die Artenvielfalt, ist die Berliner Innenstadt reicher als der Stadtrand oder das Umland. Die Fotografin Elke Behrends ist der Vielfalt von Wild- und Heilpflanzen seit Jahren auf der Spur

VON NADJA DUMOUCHEL

Mitten auf der großen Kreuzung an der Urania wächst eine kleine gelbe Blume aus dem Asphalt. Die Blätter der Blume erinnern an Bekanntes. Wer sie pflückt und zwischen den Fingern zerreibt, erkennt den Duft bunter Salatkombinationen aus Szene-Cafés in Prenzlauer Berg oder Kreuzberg. „Das ist Schmalblättriger Doppelsame, Diplotaxis tenuifolia“, sagt Elke Behrends, „wir kennen diese Pflanze unter dem Namen Rucola.“

Der Blick der Grafikerin ist geschärft für die unscheinbaren Gewächse am Straßenrand. Alle paar Meter bleibt sie stehen und kniet neben einem Stoppschild oder am Rand eines Fahrradweges, um eine Pflanze zu erklären. Auf dem grünen Mittelstreifen an der Urania, der einer grünen Oase in der grauen Großstadt gleicht, entdeckt sie süß riechendes Labkraut. Früher wurde es benutzt, um Milch zum Gerinnen zu bringen und Käse herzustellen. Unter den Bäumen zeigt Behrends auf kleine lilagelbe Blüten: „Diese Pflanze heißt Bittersüßer Nachtschatten, eine Giftpflanze. Natürlich kommt es auf die Dosierung an. Niedrig dosiert kann sie eine Heilwirkung haben, schmerzlindernd und krampflösend sein.“

Hier in der Umgebung der Urania hat Behrends vor fünf Jahren angefangen, Wild- und Heilpflanzen zu fotografieren. Die Kamera hat sie heute fast immer dabei, wenn sie spazieren geht. Ihre Erkundungen in den Hauptstadtstraßen werden zu einer Reise in einen unbekannten Mikrokosmos: „Es ist, wie wenn sich plötzlich eine Tür auftut und ein ganz neuer Bereich sich einem eröffnet. Ich finde das toll“, sagt die 49-Jährige.

Seit 1977 lebt die in geborene Hallenserin in Berlin. Sie kam, um an der Hochschule der Künste, heute UdK, visuelle Kommunikation zu studieren. „Viele denken, die Großstadt sei lebensfeindlich. Aber für viele Pflanzen trifft das nicht zu. Im Gegenteil.“ Durch das wärmere Klima in der Innenstadt siedeln sich auf Brachen, Straßenrändern und Asphaltritzen eine Artenvielfalt an, die größer ist als die in den Außenbezirken oder im Berliner Umland. 1.393 Arten und Unterarten sind in Berlin etabliert. Nicht alle sind einheimisch.

Manche Arten werden zum Beispiel direkt mit den Waren aus anderen Ländern importiert. Samen seien ohnehin sehr reisefreudig, erzählt Behrends. „Sie können jahrelang ausharren, bis sie den idealen Boden finden und keimen.“ Deswegen finde man an Wegesrändern und Gleisen viele dieser Wildpflanzen. Denn die Samen werden nicht nur vom Wind transportiert. Oft werden sie von Vögeln mitgetragen. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung arbeitet gerade an einem Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen Berlins, um die genaue Verteilung der wildwachsenden Vegetation festzustellen und ein Artenschutzkonzept zu entwickeln.

Die Pflanzenfotos von Behrends zeigen die Stadt und ihre Wildpflanzen in einer Art künstlerischem Atlas. Was den Hauptstadtbewohnern im Schmutz der Straßen nicht auffällt, steht in den Bildern im Mittelpunkt. Zwischen den geometrischen Formen der Straßen und Bauten und den organischen Blütenfarbtupfern entsteht ein faszinierender Kontrast. „Mein Beruf ist sehen und gestalten“, sagt Behrends.

Allerdings solle durch ihre Fotografie keiner zum Sammeln und Verzehren der Wildpflanzen animiert werden, betont Behrends. Sie seien ohnehin ungenießbar. Die Autoabgase, Feinstaub und der in Berlin reichlich vorhandene „natürliche Dünger“ verderben sowieso den Appetit. „Mir kommt es nur darauf an, dass die Menschen ihre Umgebung wahrnehmen.“

Nicht alle können sich jedoch mit den Gewächsen anfreunden. Eine 90-jährige Bekannte von Behrends zum Beispiel fühlt sich vom Anblick der Wildpflanzen an Nachkriegszeiten erinnert, als diese sich auf den vielen zerbombten Flächen ausbreiteten. So wurden die rosa blühenden Weidenröschen auch Trümmerblume genannt.

Hinter jeder Pflanze und den teilweisen skurrilen Namen verbirgt sich eine Geschichte. Wie zum Beispiel das Kleinblütige Franzosenkraut, von Behrends in Kreuzberg fotografiert. Im 18. Jahrhundert wurde es in französischen botanischen Gärten gezüchtet. Mit dem Einmarsch der französischen Truppen Napoleons in Deutschland reisten die Samen der auch Knopfkraut genannten Pflanze ins Nachbarland und so bekam sie ihren Namen. Sie war genauso verhasst wie die Franzosen und ihrer Ausbreitung wurde sogar per Polizeiverordnung entgegengewirkt.

Die Fotoausstellung „Die Kraft zu wachsen“ von Elke Behrends ist noch bis zum 23. Juni in der Urania zu sehen. An der Urania 17, montags bis freitags, 15 bis 22 Uhr. Eintritt frei