Die Magie von Lippis Angriff

Trainer Marcello Lippi wäre wegen des Wettskandals fast entlassen worden. Jetzt schenkt er Italien neue Hoffnung

AUS DUISBURG DANIEL THEWELEIT

Das Unbehagen ist weggeblasen. Noch vor fünf Tagen stöhnten die Italiener und ihre Nationalmannschaft unter den Ausläufern des Skandals, der die Serie A erschüttert, viele Spieler, der Trainer, sie hatten ihre Leichtigkeit verloren. Vor der heutigen Partie gegen die USA (21 Uhr) ist der Zauber zurück, und er wurde mit einer neuen Konnotation versehen. Italien hat eine ungekannte Hoffnung: Die Nationalmannschaft soll dem Land einen neuen Fußball schenken.

Das Land ist nach dem 2:0 gegen Ghana berauscht von der Magie des Angriffs. Zwar präferiert Trainer Marcello Lippi schon länger ein offensives Spielsystem, doch in einem großen Turnier ist diese Angriffskraft für Italien wie die Einnahme einer unbekannten Droge, die wirkt wie Schnaps bei einem Teenager, der noch nie Alkohol getrunken hat. „Wir haben eine schwere Zeit hinter uns, das war wie eine Befreiung“, sagte Vincenzo Iaquinta im Duisburger Trainingsquartier. Die Gazzetta dello Sport schrieb nach der guten Leistung: „Spiel, Herz, Tor. Italien geht los wie eine Rakete.“ Der Sieg ist eine Einladung, die dunklen Machenschaften in der nationalen Liga ruhen zu lasen und die nach sauberem Fußball dürstende Nation zu einem Volk der Azzurri-Fans zu einen. Maurizio Paniz, ein Politiker der rechtsgerichteten Oppositionspartei Forza Italia, forderte im Überschwang gar Amnestie für alle Beschuldigten, wenn die Mannschaft Weltmeister werden sollte. Italien will vergessen.

„Wir stehen so eng beieinander wie noch nie“, sagte Torhüter Gianluigi Buffon vor dem USA-Spiel, das sei das Ergebnis der Arbeit Lippis. „Er hat uns beschützt. Ich bewundere seine moralische Kraft.“ Plötzlich ist Lippi ein Held, viele hätten das nicht für möglich gehalten. Besonders die Süditaliener und die Römer hatten sich heftig gegen den Nationaltrainer gewehrt, der weiterhin im Verdacht steht, in den Manipulationsskandal verwickelt zu sein. Fast wäre der Trainer kurz vor der WM sogar entlassen worden. „Man hat mich gedrängt, Lippi von seinem Amt zu entheben“, sagte der kommissarische Präsident des italienischen Fußballverbands (FIGC), Guido Rossi, der Gazzetta dello Sport.

Nun ist die Nation erleichtert, dass es nicht dazu gekommen ist. Der 58-Jährige hat mit seiner mutigen Aufstellung, mit der offensiven Taktik genau den Nerv der darbenden Tifosi getroffen. Seit je galt das Primat einer gnadenlosen Defensive – auch für seinen vergleichsweise riskanten Spielansatz wurde Lippi lange kritisiert. Jetzt hat er plötzlich die wunderbare Chance, der Fußballnation seinen neuen Stil näher zu bringen. Nie war der Zeitpunkt dafür passender als jetzt.

Stürmer Alberto Gilardino ist ganz begeistert: „Italien kann in jedem Moment seine Taktik ändern, Lippi hat sehr viele Optionen in der Offensive.“ Francesco Totti, Alessandro del Piero, Simone Perotta, Luca Toni und Vincenzo Iaquinta lassen sich in unterschiedlichsten Konstellationen zusammenbauen. Und dann ist da noch Filippo Inzaghi auf der Bank, doch der steht irgendwie für den alten italienischen Minimalismus und hat wohl die geringsten Einsatzchancen unter den Stürmern.

Jürgen Klinsmann hat in den vergangenen beiden Jahren vorgemacht, wie sich mit Offensivfußball und der Bereitschaft zum Risiko die Herzen der Fans erobern lassen, mit dem sehr hübsch anzusehenden 2:0 gegen Ghana ist auch Lippi wieder zurück auf dem Weg, den er nach seinem Amtsantritt 2004 eingeschlagen hat. „Seht in uns die Azzurri und nicht Spieler von Juventus Turin oder anderen Klubs“, forderte Buffon und meinte damit wohl auch: Vergesst die Serie A mit all ihren Problemen, wir sind es, die euch Linderung verschaffen. Italiens Nationalmannschaft ist auf dem Weg, sich nicht nur vom Skandal zu befreien. Das Rezept ist, der Squadra Azzurra ein Profil als sauberes, fröhliches Gegenmodell zum schmutzigen Vereinsfußball zu verleihen. Das scheint zu gelingen.

„Wir haben im Trainingslager in Coverciano viel über den Skandal gesprochen“, sagte Gilardino vor der Abreise nach Kaiserslautern, „aber wir haben den Skandal dort gelassen.“ Vor der Ghana-Partie hatten diese Sätze noch wie substanzlose Parolen geklungen, nun verkörpern sie die Hoffnung Italiens, plötzlich nimmt man ihnen auch wieder ihre bemerkenswerte Gelassenheit ab. Die Amerikaner sprechen vor dem Duell mit den Europäern von einem „Krieg“, den es zu gewinnen gelte. Iaquinta schaute betont müde, als er das hörte und sagte: „Für die ist das das Spiel ihres Lebens, uns interessiert nicht, wie die Amerikaner sich außerhalb des Platzes aufführen. Wir werden ja sehen, wie das Spiel ausgeht.“ Da klingt das Selbstvertrauen durch, das nach der schwachen Vorbereitung für einige Wochen verflogen war. Jetzt ist es zurück – wie der Glaube an eine realistische Chance auf den Titel.