: Die Welt im Puff
Ein Ortsbesuch im Berliner „WM-Bordell“ Artemis: Wenn Fußball läuft, läuft nur Fußball. Da hilft weder Kuscheln noch nackte Haut. Aber nach dem WM-Spiel kommen sie. Es zeigt sich: Die internationale Empörung war die beste Werbung fürs Geschäft
AUS BERLIN MARTIN REICHERT
Nicht mehr als ein Handtuch um die Hüften geschlungen, sitzt die männliche Welt bei ihren nackten Freundinnen und schaut Fußball. Eines der beiden Pornokinos des so genannten Wellness-FKK-Bordells Artemis in Berlin ist Public-Viewing-Area: Heute spielt Brasilien gegen Kroatien. Das Olympiastadion ist praktisch um die Ecke, doch warum erst im Stadion sitzen, wenn man im Artemis alles auf einmal haben kann: Fußball, Sex, Bier. Letzteres ist allerdings auf drei 0,3-Einheiten zu je 10 Euro limitiert. Wer mehr will, muss zum Champagner greifen, die Flasche ab 120 Euro.
Doch zunächst trinken die Deutschen, Kroaten, Italiener und Chinesen (also die potenziellen Freier) hauptsächlich die im Preis inbegriffenen Soft-Drinks und blicken über den auf einer Sofa-Rückenlehne drapierten Hintern einer schwarzhaarigen Lady (also einer Prostituierten) auf die Leinwand, die üblicherweise ganz andere Bilder transportiert.
„Perfetto!“, freut sich ein Italiener mit Bierbauch und Glatze. Perfekt.
Im Moment ist hier heute alles etwas anders; die allgegenwärtigen Papiertuchrollen werden zum Schweißabwischen oder zum Trocknen der Freudentränen gebraucht. Es kommt einem auf verwirrende Weise normal vor. Wie überall in diesen Tagen: Man schaut zusammen Fußball, nur eben nackt und im Bordell.
Das muss Foucault wohl gemeint haben, als er das Bordell als „einen Ort jenseits aller Orte“ bezeichnete, der „eine Illusion schafft, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt“. Alles vollzieht sich in einer entspannten Selbstverständlichkeit – bizarres Schattenreich oder das tatsächliche Leben? Im schummrigen, plüschigen Dunkel des Kinos sieht man so manchen Ehering am Finger blitzen.
Eine der Frauen ist eine echte Stimmungskanone. Sie trägt nichts außer einer Kroatien-Fankappe. Und wenn sie anfeuernd aufspringt, gibt sie dem Begriff „Welle machen“ eine völlig neue, natürliche Bedeutung.
„Pulo!“, pfeift sie Brasiliens Stürmer Ronaldo an. Was so viel bedeutet wie „Fick dich, Ronaldo!“. Sie ist richtig außer sich, glüht für die Mannschaft ihres Heimatlands, die den Ball nicht ins Tor bekommt, während die Brasilianer wenigstens eines hinbekommen haben.
Eine andere Frau kuschelt sich müde an einen potenziellen Kunden, einen gestreng blickenden Araber. Vergeblich läuft eine Blonde durch den Raum – mit WM-BH für sich werbend. Auch ganz nackt hilft nichts, die Liegeräume neben dem Kino bleiben leer. Ein Kameraschnitt in den kroatischen Fanblock, auch dort entblößte, schwitzende, männliche Oberkörper. „Die kommen nachher alle zu uns!“, ruft eine junge Schöne mit polnischem Akzent. Am Vorabend waren fünfhundert Gäste hier gewesen, verteilt auf 70 Prostituierte.
Das Artemis kennt längst jeder, weltweit. „Neulich war ich um Mitternacht live in eine Talkshow in Südamerika zugeschaltet, die haben dort über uns diskutiert“, erzählt der Public-Relations-Manager des Betriebs, der Eike Wilkmans genannt werden möchte, meinen Töchtern zuliebe, „sie studieren“. Die Frage, ob er sich seine Töchter in diesem Job vorstellen könnte, kennt er schon längst. Also, zum hundertundersten Mal: „Nein, sie sind in ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen, das würde für sie nicht in Frage kommen.“
In Frankreich unterschrieben Politiker aller Parteien eine Petition gegen die „WM der Schande“ in Deutschland – die Bordelle wurden dort vor 60 Jahren geschlossen – das Artemis gilt dort als verabscheuungswürdiger Sexsupermarkt. „Frau Kanzlerin Merkel, handeln Sie“, schrieb Gisèle Halimi, Vorsitzende der Frauenorganisation Choisir la casue des femmes, in Le Monde.
Auch Präsident George W. Bush und das US-Parlament, die schwedische Öffentlichkeit und der Vatikan machen sich Sorgen. „Eine solche Werbung hätten wir uns nie leisten können, das hätte mindestens 30 Millionen Euro gekostet“, sagt Wilkmans.
Sie haben davon gehört, und nun kommen sie: Franzosen, Schweden, Amerikaner, Priester wahrscheinlich auch. Man wird es nie erfahren, über einen Bordellbesuch spricht man nicht.
„Ich weiß nicht, was sich diese Leute denken, die Frauen sind doch kein Stück Dreck! Hier sind sie sicher, alles ist legal und sauber, die Frauen können ein Gewerbe anmelden und für ihre Rente vorsorgen. Außerhalb der Niederlande und Deutschlands findet die Prostitution doch trotzdem statt, dann aber im Untergrund und unter entsprechend beschissenen Bedingungen für die Frauen“, sagt Wilkmans.
Das Artemis war übrigens niemals ein „WM-Bordell“, keineswegs wurde es nur für die WM konzipiert. Die Medien haben es dazu gemacht, weltweit. WM-Spiel gucken kostet 70 Euro Eintritt, Getränke und Essen inklusive, sowohl für die Kunden als auch für die Mädchen. Das Standardprogramm im Separée heißt „anblasen“ und Verkehr. Macht noch mal 60 Euro.
Gerade will immer noch niemand „anblasen lassen“. Das Spiel läuft. Und die Männer auf dem Rasen sehen auch viel besser aus als die mit den Handtüchern um die Hüften.
Halbzeit. Essen fassen. Draußen auf der Terrasse gibt es heute Barbecue, Steaks und Salate. Fleisch auf den Tellern, Fleisch an den Tischen, eine Russin isst barbusig Kartoffelsalat, die Italiener Würste. Die Terrasse liegt gleich neben der S-Bahn-Trasse, doch niemand kann hereinsehen, nur eine kleine Maus hat sich verlaufen.
„Wenn die Chinesen die sehen, wird sie gegrillt“, ruft einer, doch die Chinesen verstehen kein Deutsch. Sie sind aus Hongkong. „Wir sind gestern angekommen, morgen geht es nach München und danach nach, äh, vergessen“, erzählt einer. Auf das legendäre Artemis habe er sich schon lange gefreut: „Ich habe davon aus der Zeitung erfahren, und wir haben beschlossen, dass wir unbedingt zusammen hierhin wollen.“ Vom Hof aus kann man in die hauseigene Waschküche sehen, alle Maschinen laufen auf Hochtouren, die Crew kommt mit der Wäsche der Handtücher, Bettlaken und Bademäntel nicht hinterher. Körperflüssigkeiten bekommt man schon ab 60 Grad gut raus.
Eine Russin nennt sich Natascha und mag den Kartoffelsalat nicht besonders. Aber die WM findet sie gut: „Hier ist im Moment ganz schön was los, warte mal ab bis nach dem Spiel“, sagt sie. Dazu lächelt sie ihr Automatiklächeln. Es ist ihr Job, kokett zu sein. Viele der Männer sind schüchtern und haben Angst, die Frauen anzusprechen, vor allem wenn sie sehr attraktiv sind – daher flirten die Frauen, girren, machen Komplimente. Der Mann kann sich als Objekt fühlen, vorübergehend vergessen, dass es andersherum ist. Bis die Rechnung kommt.
War das Ronaldo?
Alle warten, dass beim Spiel endlich noch was passiert. Es passiert nichts. Zigaretten werden geraucht, die Kroatin schreit „verdammte Scheiße“, die männlichen Kroaten geben die Hoffnung auf einen guten Schuss nicht auf.
Doch dann: Game over. Knacks. Die Leinwand wird für einen kurzen Moment schwarz. Dann sieht man in Nahaufnahme eine anale Penetration.
Alle verlassen umgehend den Raum, nur eines der Mädchen räumt noch auf. „Jetzt laufen andere Filme“, sagt sie.
In der Bar läuft Madonna im Kirmes- House-Remix. Hört sich an wie auf Ecstasy. Alle warten, was nun kommt. Einige der Frauen drehen Proberunden an der Table-Dance-Stange.
Und dann kommen sie: die Jungs aus dem kroatischen Fanblock, die Brasilianer, die Wuppertaler und die Japaner. An der Rezeption bilden sich Schlangen, noch sieht man lustige Hüte und bunte Fantrikots, bald nur noch Körper, massige, schlanke, auch muskulöse. War das eben Ronaldo? Nein, ein Fan im Brasilientrikot. Ein Sprach- und Stimmengewirr. Babylonisch? Egal, hier herrscht Body-Language. Wie im Fußball.
Es ist tatsächlich so, wie eine der Frauen vorhergesagt hat; das halbe Stadion scheint anzurücken. Und wenn sich der französische Politiker Didier Bariani hätte durchsetzen können mit seiner Forderung, dass vor jedem WM-Spiel „Durchsagen gegen die Ausbeutung von Frauen“ gemacht werden müssten, dann wären wahrscheinlich noch mehr gekommen.