Unvergesslich

Die Zahl der Demenzkranken in Deutschland wächst. Wie gehen Angehörige und Pfleger richtig mit ihnen um? Ein Projekt erforscht einen erstaunlichen Weg, um die häufig Verängstigten zu beruhigen: durch Märchen

Frau Schmöckwitz platziert ihre Ausrufe an Wendepunkten der Geschichte. Es sind Beschwörungsformeln

AUS BERLIN MATTHIAS LOHRE

Echte Damen kommen pünktlich. Frau Wagner*, eine ältere Frau mit frisch frisiertem Haar und glitzerndem Pulli, betritt den warmen Raum. Sie geht jede Woche zu dem ungewöhnlichen Treffen. Die Projektleiterin eilt lächelnd auf sie zu: „Schön, dass Sie zu unserer Märchenstunde kommen!“ Frau Wagner blickt sie freundlich an, schüttelt ihre Hand und sagt: „Schön, Sie kennenzulernen.“

Projektleiterin Diane Dierking stockt nur eine Sekunde. Dann erstrahlt ihr Lächeln wieder, und sie geleitet Frau Wagner an ihren Stammplatz. Eine zweite Zuhörerin kommt: „Mein Name ist Baumgarten“, sagt die alte Dame. „Baum und Garten. Der Baum ist im Garten. Kann man nicht vergessen.“ Dierking nickt.

Was man alles vergessen kann, weiß die 53-Jährige sehr genau. Dierking, groß, blond, perfekte Umgangsformen, arbeitet seit mehr als einem Jahr mit Demenzkranken. Ihr ist klar, dass bislang nichts die schleichende Zerstörung des Gehirns aufhalten kann. Binnen zehn Jahren nach Beginn der Erkrankung sterben die meisten Menschen. Rund 500.000 Menschen mit einer Demenzerkrankung leben hierzulande schon heute in Pflegeeinrichtungen. Weil die Zahl der Alten wachsen wird, wird auch die der Erkrankten steigen.

Dierking und ihre Mitstreiter vom Projekt „Es war einmal … Märchen und Demenz“ suchen nach einem Weg, um die Folgen des Zerfalls zu lindern: für die Betroffenen, ihre Verwandten, Freunde und Pfleger. Ihr Weg führt sie ins Märchenland.

Die Reise beginnt, als sechs Zuhörerinnen, Frauen jenseits der 70, ihren Platz im Halbrund gefunden haben. Drei von ihnen sitzen stumm im Rollstuhl. Sie sind in der dritten und letzten Phase der Demenz. Was sie mitbekommen, lässt sich nur schwer ermessen. Die anderen drei zeigen nach Wochen der Gewöhnung Zeichen des Erinnerns. Sie ahnen, sie waren schon mal hier.

Führerin ins Märchenland ist eine Frau im prächtigen, bodenlangen Brokatmantel. Das Kleidungsstück als Zeichen: Das hier ist keine normale Veranstaltung des Wohn- und Pflegeheims, dem Katharinenhof am Preußenpark in Berlin-Wilmersdorf. Und die Mantelträgerin, eine schlanke Frau mit braunem Haar, ist keine Pflegerin. Die Schauspielerin Marlies Ludwig kommt jede Woche, um tief verankerte Erinnerungen zu wecken. So unvergesslich, dass selbst die Demenz sie noch nicht zerstört hat. Die 56-Jährige sagt langsam und klar: „Wir können jetzt anfangen, und wie immer mit …“ Kunstpause, Blick in die Runde. Eine Zuhörerin lächelt und sagt: „ ‚Es war einmal …‘.“

„… ein treuer Husar!“

Das ruft Frau Schmöckwitz in den Raum, mit fester Stimme und im schnarrenden Tonfall eines preußischen Unteroffiziers. Ludwig kennt das schon. Jede Märchenstunde verläuft anders. Es gibt gute und schlechte Tage. An schlechten Tagen zeigen mehrere Patienten, so nennen Pflegewissenschaftler das, „herausforderndes Verhalten“. Dann stehen sie auf, gehen herum, geraten in Angst, Depressionen oder werden aggressiv. An guten Tagen redet nur eine: Frau Schmöckwitz.

„Dat is ja ’n Ding!“

Marlies Ludwig beginnt, zu erzählen: „In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat …“ Es ist das Grimm’sche Märchen „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“. Der freie Vortrag und die direkte Ansprache sind wichtig. Läse Ludwig aus einem Buch vor, würde sich ihr Publikum lust- oder verständnislos abwenden. Und auf die Formeln wie „In den alten Zeiten“ kommt es an. Es sind Beschwörungsformeln, die sich besonders tief ins Gedächtnis eingegraben haben. In den alten Zeiten, als die Zuhörerinnen noch Kinder waren.

„Die Prinzessin“, sagt Märchenerzählerin Ludwig, „spielte den ganzen Tag mit einer goldenen Kugel …“

„Na, die hat ja wat jemacht!“, ruft Frau Schmöckwitz. Warum sie das tut, darüber lässt sich nur mutmaßen. Demenzkranke suchen nach Ordnung im Chaos ihrer Wahrnehmung. Und was sich mit Worten herabsetzen lässt, verliert an Schrecken. Auch Frau Schmöckwitz’ Ausrufe sind Beschwörungsformeln.

„… da fiel die goldene Kugel in den Brunnen …“

„Na, dat is ja ’n Ding!“ Frau Schmöckwitz platziert ihre Rufe an Wendepunkten der Geschichte. Märchen sind meist klar strukturiert. Das erleichtert die Orientierung, auch wenn der genaue Inhalt verschwimmt.

Unbeirrt erzählt Ludwig weiter. Die meisten Zuhörerinnen wurden zwischen 1930 und 1940 geboren. Die Macher haben Geschichten ausgewählt, die zu Kinderzeiten der Patienten besonders populär waren: allen voran die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Die beiden Berliner verfehlen selten ihre Wirkung.

Nicht jedes Märchen ist etwas für Demenzkranke. Hänsel und Gretel, ausgesetzt im dunklen Wald, erinnert Zuhörer an ihre eigene Lage. Ihre Furcht vor Orientierungslosigkeit würde nicht gelindert, sondern verstärkt.

„… und verschwand in ihrem Schloss …“

„Na, dat is ja ’n Ding!“

Fünf der sechs Zuhörerinnen wirken aufmerksam. Nur die schmalste, im Rollstuhl versunkene hat die Augen geschlossen. Aber sie hebt und senkt immer wieder leicht ihren Kopf. Ein paar Meter entfernt sitzen Projektleiterin Dierking und eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, vor sich einen Bogen Papier. Darauf stehen mimische Ausdrücke zum Ankreuzen: Wer hört gebannt zu? Wer wirkt ängstlich, froh, apathisch?

„ ‚… weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast? Quak.‘ “

„Quak!“, ruft Frau Schmöckwitz.

In einem Pilotprojekt haben Dierking und ihre Mitarbeiter bis März 2013 in zwei Pflegeeinrichtungen Märchen vortragen lassen. Nicht, um dauerhaft das Denkvermögen zu verbessern, das ist unmöglich. Die Märchenstunden sollen Emotionen wecken. Das Gefühl, das sich einst einstellte, als man vorm Schlafengehen einem geliebten Menschen lauschte – und man sich beschützt wusste: Am Ende würde alles gut werden. Worte statt Psychopharmaka. Das Projekt wird fortgeführt.

„… da blieb der Prinzessin nichts anderes übrig, als ihn hereinzulassen.“

Eine Zuhörerin, die bislang stumm gelauscht hat, sagt zustimmend: „Ja, ja …“ Sie erkennt etwas wieder, nickt, schaut ihre Nachbarinnen an. Normalerweise spricht die alte Frau dazwischen. Heute ist sie ruhig. Es ist ein guter Tag. Nur Frau Schmöckwitz hört nicht auf.

„… der Froschkönig sagte: ‚Jetzt lass uns in dein Schlafgemach gehen.‘ “

„Na, dat is ja ’n Ding!“

Frau Schmöckwitz braucht Floskeln, um sich und anderen Normalität zu simulieren. Andere wiederum führen Unterhaltungen so perfekt, dass erst langsam klar wird, dass hinter der Fassade wenig erhalten geblieben ist. Eine Frau mit Handtasche, noch gut zu Fuß und zum Plaudern aufgelegt, hat vor Beginn der Stunde erzählt, sie könne nächste Woche leider nicht kommen. Sie heirate in Australien. Sie heiratet jede Woche in Australien.

„Als er aber herabfiel“, sagt Ludwig, „war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen, freundlichen Augen …“

Und Frau Schmöckwitz sagt – nichts mehr. Die alte Dame hört, die Augen geweitet, einfach zu. Mehr als 20 Minuten dauert der Vortrag schon. Für Demenzkranke eine lange Zeitspanne, die Reise ins Märchenland hat gewirkt. Wie lange die Entspannung anhält, lässt sich nur schwer ermessen. Die Pfleger wissen, was los ist, wenn ein Bewohner immerzu von einer „goldenen Kugel“ redet. Dann hat das Märchen etwas in dem Menschen berührt.

„Dat is ja ’n dickes Ding!“

Dierking und ihre Mitarbeiter sind nicht die Ersten, die Demenzkranken Märchen vortragen. Aber sie nehmen für sich in Anspruch, deren Wirkung als Erste im deutschsprachigen Raum wissenschaftlich zu erforschen. Die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit fördert das Projekt, ebenso das Bundesfamilienministerium und zwei Pflegedienstleister: die Agaplesion Bethanien Diakonie und die Agaplesion Markus Diakonie. Außerdem die Katharinenhof-Gruppe, zu der das Pflegeheim gehört. Organisiert wird es von „Märchenland“, einer gemeinnützigen GmbH mit Sitz in Berlin. Ihr Ziel: Krankenkassen sollen die Erzählrunden in ihren Leistungskatalog aufnehmen, Pflegekräfte in der Ausbildung über die heilsame Wirkung von Märchen lernen.

Die Geschichte geht zu Ende: „Noch einmal und noch einmal krachte es auf dem Weg“, sagt Ludwig, „und der Königssohn meinte immer, der Wagen bräche, und es waren doch nur die Bande, die vom Herzen des treuen Heinrich absprangen, weil sein Herr erlöst und glücklich war.“

Frau Schmöckwitz ruft laut: „Na, dat is ja ’n dickes Ding!“

„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Die Stunde ist vorüber. Projektleiterin Dierking und Märchenerzählerin Ludwig verabschieden sich so herzlich von den sechs Damen, wie sie sie begrüßt haben. Dann setzen sie sich. Sie sind zufrieden. Eine gute Stunde.

„Wir“, sagt Dierking, „sind aus den geburtenstarken Jahrgängen Ende der 50er, Anfang der 60er. Wenn unsere Eltern noch leben, dann ist Demenz häufig ein Thema.“ An jedem der 1,4 Millionen Demenzkranken in Deutschland hingen fünf bis zehn Menschen, die ihnen nahe stehen. Dierking erlebte als Kind, wie ihre Großmutter über zehn Jahre immer dementer wurde. Später sah sie Ähnliches bei ihrer Schwiegermutter.

„Wir machen ein Angebot“, erklärt Dierking. „Wir senden und hoffen darauf, dass es einen Empfänger gibt. Und wenn wir eine Verbindung schaffen, ist das so beglückend, wie ich es sonst selten finde.“ Die Märchen helfen auch denen, die sie erzählen.

Zum Schluss erzählen Dierking und Ludwig noch eine Geschichte. Diesmal ist es eine eigene. Ein Mann, schon schwer dement, besuchte mit seiner Frau eine Märchenstunde. Im Anschluss begleiteten sie das Paar zur Tür. Dort drehte sich der Mann noch einmal um, und sie sahen, wie er alle Kraft zusammen nahm. Ein Aufbäumen, um einen Kontakt zwischen sich und der Welt zu knüpfen, vielleicht zum letzten Mal. Hervor brachte er ein einziges Wort: „Schön.“

* Die Namen aller Patientinnen sind geändert