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Archiv-Artikel

Und dann wird geschummelt

IM OSTTEIL DER STADT

Ja, wir gehören zu den Assis, die sich einmal im Jahr in die Bankreihen schummeln, um Segen einzusacken

Weihnachten ist immer ein Stück Kindheit für mich. Nicht nur wegen der Verwandten, mit denen man so viel Zeit am Stück verbringt wie sonst im Rest des Jahres insgesamt nicht mehr. Auch weil Berlin sich dann genauso anfühlt wie vor der Wende. Still. Verlassen. Parkplätze überall.

Wir bewegen uns ausschließlich im Ostteil der Stadt. Von Pankow nach Karlshorst und wieder zurück. Wenn’s hoch kommt, schleppen wir das Essen in unseren Mägen noch einmal durch den Park, bevor es wieder Kuchen gibt. Und wir gehen in die Kirche. Ja, wir gehören zu den Assis, die sich einmal im Jahr zwischen die Bankreihen schummeln, um ein bisschen Segen einzusacken. Na und? Der Pfarrer der Paul-Gerhardt-Gemeinde hielt eine Predigt, die den Namen verdiente. Darüber, dass Maria und Josef ja auch Wirtschaftsflüchtlinge waren, die niemand reinlassen wollte. Er redete von „Funktionszusammenhängen“, von Lampedusa und Nächstenliebe. Er ist brillant, ich verliebe mich ein bisschen. Wenn er bloß nicht die ganze Zeit von den Flüchtlingen auf dem „Oranienburger Platz“ reden würde! Kreuzberg ist eben weit weg von Karlshorst.

Außerdem wird in meiner Familie gespielt. Im Imperativ. „Esst ma eure Pfefferkuchen, wir wollen spielen!“, sagt meine Tante. Und dann wird gespielt. Meine Cousins wollen immer „Stadt, Land“ spielen, mit Kategorien wie „Fluglinie“. Ich habe „Scheidungsgrund“ vorgeschlagen. Und dann wurde geschummelt. Die lügen, ohne rot zu werden! Sportart mit D. „Draisine fahren“, sagt mein Onkel. Meine Mutter hatte als Scheidungsgrund „Hose runter“. Meine Tante hat erst protestiert. Aber dann kam raus, dass sie dachte, es soll eine Sportart sein. Ich mag Weihnachten.

LEA STREISAND