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Archiv-Artikel

Wo Proust zu einem spricht

INDIVIDUALITÄT Sich seiner selbst bewusst werden – auch nicht einfach. Über den emanzipativen Funken, der einen durch Literatur erwischen kann

VON DIRK KNIPPHALS

William Stoner hat große, derbe Hände, für die er sich sehr schämt. In Gesellschaft wird er zeitlebens ungeschickt bleiben. Er, das Kind armer Farmer, ist die Hauptfigur in John Williams’ Roman „Stoner“, der, 1965 in den USA erschienen, erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde und viele begeisterte Leser gefunden hat. Dass man ihn so gerne liest, hat mit dem Thema der Emanzipation zu tun.

Der diesem William Stoner eigentlich vorgezeichnete Lebensweg ist klar. Er soll die elterliche Farm übernehmen. Zunächst aber schicken ihn seine Eltern aufs College, um Landwirtschaft zu studieren. Das ist keine Selbstverständlichkeit, die Eltern müssen es sich vom Mund absparen. Auf dem College kommt William Stoner allerdings mit der Literatur in Berührung. Bei dem Englischprofessor Archer Sloane nehmen sie ein Sonett von Shakespeare durch. Und John Williams beschreibt diese erste intensive Begegnung seiner Hauptfigur mit dem ihr bis dahin so fremden Reich der Literatur als Erweckungserlebnis.

Sloane fragt: „Über drei Jahrhunderte hinweg redet Mr Shakespeare mit Ihnen, Mr Stoner. Können Sie ihn hören?“ (Als Leser hört man etwas Donnerndes in dieser Stimme.) Stoner kann darauf nicht antworten. Aber etwas geschieht mit ihm. Kurz darauf sieht er sich auf dem Campus unter seinen Kommilitonen um: „Er musterte sie so neugierig, als hätte er sie nie zuvor gesehen, und fühlte sich ihnen zugleich fern und nah.“ Und dann heißt es: „Er wurde sich in einem zuvor ungekannten Maße seiner selbst bewusst.“ Im Original klingt der Satz noch ein bisschen besser: „He became conscious of himself in a way that he had not done before.“ Das ist der Moment, in dem deutlich wird, dass William Stoner sich von den Erwartungen seiner Eltern lösen muss. Er geht nicht auf die Farm zurück. Er wird an der Universität bleiben.

Eine Wurfsendung

Der Schriftsteller Dieter Wellershoff hat einmal in einer Kurzgeschichte Kontaktanzeigen als eine Art Wurfsendung gelesen, in der sich ausdrückt, was die Menschen tief beschäftigt. Zunächst ist der Erzähler in dieser Geschichte angenervt von den marktschreierischen Formulierungen solcher Anzeigen. Aber dann entdeckt er: „Dies waren nur Formeln, Verschlüsselungen, hinter denen das Leben selbst verborgen war. […] Ein untergründiges Netz von Energieströmen verband die Menschen.“

Vielleicht ist es gut, auch den späten Erfolg des Romans „Stoner“ als so eine Wurfsendung zu lesen. Was William Stoner empfindet, ist inzwischen ja Allgemeingut geworden. Wir befinden uns an dieser Stelle des Romans in der Zeit von vor dem Ersten Weltkrieg. William Stoner braucht noch ein besonderes Erlebnis, die Erweckung durch auratische Poesie, um sich seiner selbst bewusst zu werden. Spätestens mit den modernen Vorstellungen von der Pubertät wurde diese ebenso krisenhafte wie für Selbsterfindungen offene Phase in jedem Menschenleben installiert. Und diese Phase kann sich, wie man inzwischen auch weiß, lange, lange in einem Lebenslauf hinziehen. Etwas an diesem linkischen, stets überaus ernsten William Stoner spiegelt ein heutiges Empfinden wider. Er redet zu uns. Zwar nicht über drei Jahrhunderte hinweg, aber immerhin.

Was dieser William Stoner entdeckt, ist, dass er nicht identisch ist mit den Erwartungshaltungen, die an ihn herangebracht werden. Das ist die Grundvoraussetzung – aber noch keineswegs eine Garantie – für eine gelingende Emanzipation, wovon oder wozu auch immer. Der Vorteil von Literatur ist dabei, dass sie den damit verbundenen emanzipativen Funken von innen heraus beschreiben und damit auch ein Stück weit weitergeben kann.

Dieser Aspekt wird gelegentlich unterschätzt. Als ich kürzlich mit einem Soziologen über Emanzipation sprach, meinte er, individuelle Emanzipation sei soziologisch Quatsch, höchstens ein großer Ausnahmefall. Tatsächlich seien Strukturen und gesellschaftliche Normen entscheidend. Das mag stimmen – ist allerdings auch nur innerhalb von soziologischen Sprachspielen gedacht. Um zu erfahren, wie heftig Emanzipation sehr wohl individuell durchgekämpft und ausgehalten werden muss, braucht es eben Literatur. Und das ganze Bild ergibt sich erst, wenn man die soziologische und die literarische Perspektive nebeneinanderhält.

Ein Leben erfinden

Auch politisch ist individuelle Emanzipation schwer zu bearbeiten. Allgemeine Forderungen nach gerechten Quotierungen und danach, gesellschaftliche Voraussetzungen für individuelle Lebensgestaltungen zu schaffen, führen im politischen Subsystem weiter als der Slogan: Jeder Mensch soll sein eigenes Leben erfinden! Auch für eine solche auf Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen orientierte Perspektive gibt es interessante Romane. Bei Charles Dickens erfährt man viel darüber, wie schlimm menschliches Leben sein kann, wenn Armenhilfe und andere Sozialleistungen nicht existieren. Und in den Romanen Jane Austens steht eine Menge darüber zu lesen, dass alle individuelle Intelligenz und jeder Witz wenig nützt, wenn man als Frau letztendlich doch nur auf zwei, drei akzeptierte Rollenmuster festgelegt wird. Aber es gibt eben auch die anderen Romane, in denen individuelle Selbsterfindung ganz ausgekämpft und irgendwo auch zelebriert wird.

In Richard Rortys Buch „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ kann man sich gut eine philosophische Begründung dafür abholen, warum man solche Romane, die Gesellschaftsstrukturen beschreiben, und solche, die individuelle Selbsterfindung betreiben, nicht gegeneinander ausspielen sollte. Das Paradebeispiel eines solchen Romans der Selbsterfindung ist für Rorty Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“. Tatsächlich erfindet man sich bei der Lektüre dieses Buches, während Proust den ganzen Reichtum individuellen Erlebens vor einem ausbreitet, als Leser gleichsam selbst mit. Man weiß dann, wie individuell man als Mensch fühlen, sehen, lieben kann – oder wenigstens könnte, wenn man denn die Kraft dazu fände.

Unter den Neuerscheinungen lässt sich übrigens das umfassende Selbstbeschreibungsprojekt von Karl Ove Knausgård, von dem bisher die Bände „Sterben“, „Lieben“ und „Spielen“ auf Deutsch erschienen sind, neben Proust stellen. Auch dieser norwegische Autor vermittelt einem das gleiche Gefühl, das William Stoner bei Shakespeare überkam: dass einem die Mitmenschen (und dabei man sich selbst auch) plötzlich nah und fern zugleich vorkommen. Das durchaus als Lesetipp.

Das Besondere an John Williams’ Roman „Stoner“ – und das an diesem Erfolg wirklich Überraschende – ist nun aber erst, wie grundtraurig die Geschichte für William Stoner nach seinem emanzipativen Erweckungserlebnis weitergeht. Zunächst einmal muss er seinen Eltern von seinem Entschluss erzählen, einen eigenen Weg zu gehen. John Williams macht daraus eine gerade in ihrer Stille sehr eindringliche Szene. Kein großer Generationenkonflikt. Sondern vielmehr ein innerer Kampf mit Peinlichkeit und schlechtem Gewissen. Gerade das macht diesen vor den großen Generationenkämpfen von 68 geschriebenen Text wieder so heutig. Es hat sich eben herausgestellt: Es ist gar nicht leicht, sich von der Herkunft zu lösen. Man kann sich vorstellen, dass solche Über-Ich-Probleme, wie sie William Stoner umtreiben, zuhauf in den subkutanen Energieströmen der Gesellschaft zirkulieren.

Vor allem ist „Stoner“ alles andere als eine Heldengeschichte. Die Selbsterfindung läuft im Anschluss an die Erweckung nämlich ziemlich schief. Stoner heiratet die falsche Frau. Und bei seiner Karriere als Universitätsdozent steht er immer wieder sich selbst im Weg. Zu ungelenk. In manchem auch zu rechtschaffen. Weit bringen wird er es nicht. Das ist das, was einen an diesem Roman wohl am meisten berührt: dass er ein Gefühl und auch eine Achtung dafür vermittelt, dass man von manchen Ausgangspositionen aus jetzt vielleicht nicht das ganz strahlende Leben hinkriegt. Aber doch weiß: Versuchen muss man es. Auf der Farm zu bleiben, ist, wenn einmal ein emanzipativer Funke da ist, keine lebbare Alternative.

■  Auf Deutsch ist „Stoner“, übersetzt von Bernhard Robben, bei dtv erschienen