Vom Titanen zum Zahmen

Der Surrogat-Torhüter: Oliver Kahn darf zwar nicht für Deutschland auf dem Spielfeld stehen, aber als Solitär auf der Büßerbank entdeckt er während dieser WM trotzdem täglich „neue Seiten“ an sich

AUS BERLIN MARKUS VÖLKER

Wenn das Turnier vorbei ist, dann steht im Lager der Deutschen eine Preisverleihung an. Oliver Kahn wird die Tapferkeitsmedaille übergeben. Und auch Bundespräsident Horst Köhler sollte nicht allzu lang warten mit der Vergabe des Bundesverdienstkreuzes. In der Staatsaffäre „Schlussmann“ war Kahn der Unterlegene, doch das Opfer fügt sich brav. „Es ist ein Prozess, bei dem ich an mir neue Seiten entdecke“, sagt die Nummer zwei, „ich bewege mich tagaus, tagein in einem Spannungsfeld, so etwas habe ich in dieser Form noch nicht erlebt.“

Weil der Olli im Grunewald so klasse durchhält, bekommt er auch schon mal ein Lob vom Bundestrainer. Der sagt: „Wie er sich einbringt und in jedem Training heiß ist, das ist vorbildhaft.“ Kahn, 37, wird solche Sätze schätzen wie einen Beinschuss, aber egal, er hat sich entschieden, als stiller Surrogat-Torhüter Dienst zu tun, da muss er Spott der subtileren Art ertragen.

„Es ist für mich selbst überraschend, dass ich so engagiert an die Aufgabe herangehe“, sagt der tapfere Torwart. „Ich verspüre in den Trainingsabläufen nichts Demotivierendes.“ Nur bei den Spielen, wenn er den Canossagang zur Bank antreten muss, mache sich Frust breit. Auf der Büßerbank sieht man ihn in diesen Tagen manchmal lustlos rumlungern, als gehöre er nicht dazu. Dann grummelt der Solitär ein bisschen, traktiert seinen Kaugummi, schaut verdrossen in den Kahn-Tunnel – und erblickt, jawoll, Licht am Ende des Schachts. „Es bringt nichts, sich abzukapseln und nach dem Training im Zimmer zu verschwinden.“ Er möchte der Mannschaft „etwas geben. Das ist für mich als Sportler und Mensch wichtig.“ Und weiter: „Ich wollte nicht einfach durch die Hintertür verschwinden. Ich versuche jetzt lieber, mich produktiv einzubringen.“

Produktives Einbringen ist in der Klinsmannschaft ebenso erwünscht wie das Ausleben von „positiven Aggressionen“. Also darf Kahn nicht nur den altersmilden Herbergsvater mimen, sondern sich auch mal in die Nähe seines titanischen Alter Ego begeben und Kritik äußern, ein bisschen zumindest. „Wenn man bei Bayern München solche zwei Jahre gespielt hat, mit zwei Meistertiteln und zwei Pokalsiegen, dann fragt man sich, warum man eigentlich nicht spielt.“

Die Antwort ist ganz einfach: Weil es Klinsmann nicht will, weil er den spielenden Torwart Jens Lehmann, 36, zwischen die Pfosten schickt und den Altvorderen nach Meinung der bajuwarischen Lobbyisten wahlweise abgekanzelt, ausgebootet oder demontiert hat. So falsch liegen die Kahn-Kombattanten nicht: Klinsmann hat den Laden des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) auseinander nehmen wollen, an der Person des Keepers Kahn ist ihm dieses Reformwerk erstmals gelungen. Doch Klinsmanns Dummy – und das ist der Kahn’sche Coup – behauptet einfach, er fühle sich pudelwohl in seiner neuen Rolle. Das wirkte anfangs provokativ auf den Trainerstab. Manager Oliver Bierhoff forderte vor Lagerbeginn im persönlichen Gespräch „absolut loyales Verhalten“ von Kahn. Der antwortete mit einem so souveränen wie überraschenden Bekenntnis zur Bank.

Kahn sagt, es gebe in der deutschen Mannschaft keine Einzelgänger und Individualisten, alle gingen in der Gruppe auf, auch er selbst. „Es geht nicht um mein persönliches Schicksal, es geht um etwas viel Größeres, deshalb muss ich mich hinten anstellen.“ Seine Anwesenheit im Schlosshotel bringt ihm aber nicht nur neue Erkenntnisse, sondern auch ein paar Euro ein. Kahn taucht in allerlei Werbespots auf. Was wäre wohl passiert, wenn der bärbeißige Keeper nicht dabei gewesen wäre beim Championat und sich zum Beispiel einen Strandurlaub auf den Malediven gegönnt hätte? Seinem Berater hätte das gar nicht gefallen, und all den Bierbrauern, Sportartikelherstellern und diversen anderen Gewerbetreibenden auch nicht.

Kahn soll jetzt, da er zum passiven Werbeträger geworden ist, ziemlich relaxt drauf sein. Und siehe da, er selbst bestätigt die Wandlung vom Titanen zum Zahmen: „Wenn der Druck nicht da ist, ist man innerlich gelöster und lockerer. Wenn ich spielen würde, wäre ich kaum ansprechbar und permanent fokussiert und würde mich kaum ablenken lassen“, erklärt er. So kann er das Treiben auf dem Feld und in den Arenen zurückgelehnt betrachten und dabei interessante Beobachtungen machen. Zum Beispiel: „Die Spieler sind heute bis unter die Haarspitzen austrainiert und fit. Das ist kein Vergleich zu früher. Heute sind ein wahnsinniges Tempo, wahnsinnige Fitness und wahnsinnige Athletik gefragt“, sagt der Profi, der früher auch mal wegen bizarrer Auftritte im Strafraum der „Kahnsinnige“ hieß. „Du musst wie ein hochgezüchteter menschlicher Motor sein, um diese sieben WM-Spiele auf Topniveau zu überstehen“, führt er aus.

Wahrscheinlich muss der Altnationale seine Torwart-Maschine in diesem Turnier nicht mehr anwerfen. Er wäre natürlich für den Kickstart gerüstet. Er habe ohnehin etwas in sich, was ihn immer wieder aufstehen lasse, sagt Oliver Kahn: „Das ist ein bisschen wie in Hollywood.“