: Last exit Schweinebucht
La Gomera umwehte der Ruf, eine Hippie- und Esoterikhochburg zu sein. Das ist vorbei. Jetzt überwiegt ein Tourismus der Ruhesuchenden, die auf Zeit aussteigen, um Natur, Meer und das Wandern zu entdecken
VON JÖRG HEYNLEIN
Mit einer Fähre des Garajonay Express verlassen wir den mit Ferienbetonburgen und Urlauberschubladen verbauten südlichen Teil Teneriffas in Richtung Gomera. 45 Minuten Überfahrt bis zur Inselhauptstadt San Sebastián. „Viel Spaß beim Befreiungstrommeln und Fackelschwingen und passt auf, dass ihr euch nicht in all den Dreadlocks verheddert“, kommentierten die meisten klischeehaft unseren Plan, nach Gomera zu fahren. Eine Freundin kam vor der Abreise vorbei und zeigte Fotos. Vor zwölf Jahren verbrachte sie einige Wochen in den Höhlen der so genannten „Schweinebucht“ im Valle Gran Rey, dem Tal des großen Königs. Auf den Fotos sehe ich Entrückte, die den Sonnenuntergang mit Urschreien begleiten, rauschebärtige Nackttrommler und barbusige Flötistinnen. Doch die falsche Wahl für einen wanderfröhlichen Nichtesoteriker wie mich? Aufatmen. Das Publikum an Bord der Fähre nach Gomera bestätigt meine unterschwelligen Befürchtungen nicht. Normalos.
Die Zeit hat sich geändert, weiß eine Frau aus Hamburg, die bereits seit zehn Jahren nach Gomera kommt und die Veränderung erlebt hat. Zwar bewohnen noch immer Aus-, Um- oder Einsteiger die Höhlen an der Playa del Argada, unweit der Finca Argayall, einem selbst ernannten „Place of Light“, mit Meditationszentrum und Hotelbetrieb. Doch in Abständen kommt die Guardia Civil in Booten die Küste entlang, vertreibt die Schweinebuchtler aus ihren Höhlen und fackelt die Inneneinrichtungen ab. Nach ein paar Tagen kommen die Vertriebene zurück und bauen alles wieder auf. Zumindest die, die auf dieses Spiel ohne Grenzen Lust haben. Nicht ganz ohne Schadenfreude der Anwohner, die zwar nicht allzu viel Lust auf die Anwesenheit von Polizei und Militär haben. Allerdings auch keine Lust (mehr) auf Schnorrende.
Die Zeiten sind härter geworden. Etabliert hat sich ein reiches Angebot an biologischen Lebensmitteln. Und an esoterischer Grundversorgung. Geheimnisvolle TitelträgerInnen locken mit geheimnisvollen Angeboten, die schmunzeln lassen. Das Flugblatt einer „Energiemedizinerin“ wirbt für Reiki, Clearing, Bodytalk, Eye-Reading und Kartenlegen. Aha.
In San Sebastián bleiben wir auf der Fähre. Die nun sanftere Fahrt für weitere 45 Minuten entlang der Küste bis nach Vueltas verdeutlicht, warum Gomera als die unzugänglichste der kanarischen Inseln gilt und kräftige Wanderwaden wichtiger sind als Strandmatten. Steilküsten. Die runde Insel mit Hochland und dem 1.487 Meter hohem Garajonay misst gerade mal 25 Kilometer im Durchmesser. Sieben tiefe Haupttäler, Barrancos, haben sich durch das Gestein bis zum Meer gefressen. Eines der Täler im Südwesten ist das Valle Gran Rey.
Als die Fähre uns freigibt, können wir das Ziel bereits sehen: La Calera, das in der Abendsonne leuchtende, vom steilen Hang gehaltene Bergdörfchen. Bunte und weiße Häuschen strahlen Ruhe und Gelassenheit aus. Über Treppen erreicht man die oberen Teile des Dorfes. Restaurants und Supermercados in unmittelbarer Nähe machen die Füße zum wichtigsten Fortbewegungsmittel. Der perfekte Ausgangsort für Wanderungen.
Im Wesentlichen bieten sich zwei Strategien an. Entweder man fährt das Tal hinauf zu einem Startpunkt und wandert dann hinab oder man wandert, je nach Zustand der Knie, hinauf und fährt mit einem Nachmittagsbus oder mit dem Taxi hinab.
Das Meer ist allgegenwärtig, stets in Sicht- und Hörweite und in 15 Minuten zu Fuß von unserer Herberge oben in La Calera zu erreichen. Zurück dauert es etwas länger nach dem allabendlichen Ritual am Strand von La Playa. Sonnenuntergang an der kleinen Promenade, vor der Casa Maria und dem schwarzen, steinigen Strand. Ein kleiner Menschenauflauf, Trommler und Feuerschwinger begleiten die Sonne auf ihrem Weg zum Horizont mit einem netten Spektakel. Feuerrot verschwindet sie neben der Nachbarinsel El Hierro im Meer.
Eine unserer ersten Wanderungen führt durch den Lorbeerwald des Garajonay-Nationalparks. Unten im Tal klettern die Temperaturen schnell. Unsere Vermieterin hatte am Morgen hinauf geschaut und uns dazu geraten, heute die Regenwaldtour zu machen. Als uns das Taxi in Las Hayas auf 1.000 Meter ausgeladen hat, ist das Wetter umgeschlagen. Dichte Passatwolken sind aufgezogen, es kühlt ab, leichter Regen setzt ein, der der Insel Feuchtigkeit für ihr grünes Gesicht spendet. Der Wanderführer verspricht eine Belohnung am Ende der Rundtour durch den Jahrmillionen alten Lorbeerurwald mit seinen Flechten und Moosen und Riesenfarnen: die vegetarische Küche der in jedem Reiseführer erwähnten Dona Efigenia, einer freundlichen älteren Dame. Beantwortet man die Frage nach Essen mit „Si“, so ist alles gesagt. Es gibt „nur“ das großartige Menü, bestehend aus Gofiobrei (aus Maismehl) mit rotem Mojo, Salat und einer Gemüsesuppe. Zum Abschluss ein Mandelkuchen mit Palmhonig.
Es ist erst 13 Uhr. Wir beschließen, zurück über Aurure den Abstieg nach La Calera zu machen. 950 Höhenmeter. Vom Gipfel des La Merica geht es in Serpentinen steil bergab. Von der Hochebene sehen wir die Sonne, die auf El Hierro zusteuert, den kleinen Strand von La Playa und die opulente Straße, die wie eine breite Narbe die ineinander übergehenden Örtchen im Tal des großen Königs verbindet. Indiz einer neuen Zeit, der übertriebene Versuch der Inselverwaltung, die Infrastruktur für eine steigende Touristenschar bereitzustellen.
Das Betonungetüm des neue Yachthafens in Vueltas und die nicht zu übersehenen Baustellen und touristische Reihenhaussiedlungen, die die Ankunft des Pauschalurlaubers ankündigen, bezeugen den Wandel. Doch Gomera wird nie ein Ort des Tourismus à la Ibiza oder „Malle“ werden. Keine weißen Strände, ein Miniflughafen. Inselrelief und Geologie sind die natürlichen Wächter des Massenandrangs.