Niedriglohnland Berlin : Billigjobwunder
In Berlin und Brandenburg boomt es – und zwar im Niedriglohnsektor. Doch nicht nur in Callcentern, im Bewachungsgewerbe oder in der Baubranche bekommen viele Mitarbeiter nicht einmal 4 Euro die Stunde. Längst sinken auch in vielen Branchen des traditionellen Industriesektors die Löhne und die Anstellungen sind nicht mehr sozialversicherungspflichtig. Schlechte Einkommen sind dabei oft mit miserablen Arbeitsbedingungen verbunden.
Die Gründe für die massive Zunahme von Billigjobs sind vielfältig. Drei Ursachen sind in Berlin jedoch besonders virulent: der dramatische Abbau von Industriearbeitsplätzen, der Wandel in der Unternehmenskultur und das Auslagern von einzelnen Unternehmensbereichen, das so genannte „Outsourcing“.
So ist seit der Wende und dem folgenden Wegfall der Berlin-Förderung in beiden Teilen der Stadt die Zahl der traditionellen Industriearbeitsplätze von einst 300.000 auf nun nicht einmal 120.000 geschrumpft. Dabei zeigte sich Anfang der 90er-Jahre zunächst noch eine parallele Wirtschaftsentwicklung in Berlin und Deutschland. Seit 1995 ist die Hauptstadt jedoch immer mehr von der Bundesentwicklung abgekoppelt und fällt in den meisten wichtigen Indikatoren deutlich zurück. Die Berliner Wirtschaft ist seitdem charakterisiert durch Betriebsschließungen in der Industrie und den Stellenabbau im öffentlichen Dienst, deren negative Wirkungen durch das Wachstumssegment Dienstleistungen kaum kompensiert werden.
Ein zweiter Grund ist eine veränderte Unternehmenskultur. Längst hat sich auch in Berlin die Arbeitgeber-Argumentation durchgesetzt, dass der globale Konkurrenzkampf es notwendig mache, die Kosten zu senken – selbst wenn das Unternehmen Rekordgewinne einfährt. Und genau so wird auch der Stellenabbau gerechtfertigt. Doch die Arbeit wird nicht weniger. Ersetzt werden langjährige Mitarbeiter durch junge und flexible Kräfte, deren Stellen allerdings nicht mehr sozialversicherungspflichtig sind.
Eine dritte gängige Methode: Gewerkschaftliche Errungenschaften werden umgangen, indem Arbeitgeber immer mehr Unternehmensbereiche auslagern. In diesen neuen Betrieben haben erkämpfte Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen keine Geltung mehr.
Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind aber nicht nur im industriellen und gewerblichen Sektor gang und gäbe. Auch Betriebe der öffentlichen Daseinsvorsorge geizen bei ihren Mitarbeitern. Zum Beispiel der ambulante Pflegebereich: In dieser Branche arbeiten in Berlin bei etwa 350 Pflegediensten immer noch rund 12.000 Personen, viele von ihnen unter miserablen Bedingungen. Der Stundenlohn liegt zwischen 7 und 12 Euro – brutto. Die Anfahrtswege zu den Pflegebedürftigen dürfen nicht abgerechnet werden. Und bei einigen Diensten haftet der Pfleger selbst für das Firmenauto, sollte es zu einer Panne oder gar zu einem größeren Unfall kommen.
Die Arbeitgeber setzen mit Kusshand auf diese günstigen, doch leider oft auch unausgebildeten Pflegekräfte. Manche Vorgesetzte gewähren Einführungskurse. Ansonsten sind die Pfleger ganz auf sich allein gestellt.
Diese insgesamt dramatische Strukturveränderung auf dem Arbeitsmarkt in Berlin und Brandenburg ist noch lange nicht abgeschlossen. FLEE, ROT